»Sie sind also Glausers Schützling?«, schmunzelte Balmer, strich sich übers Kinn und musterte sein Gegenüber aufmerksam. »Er hat mir nicht zu viel versprochen. Ich habe am Nachmittag Zeit. Kommen Sie um drei Uhr doch noch einmal hierher.«
Und so begann eine äußerst fruchtbare Zeit für Victor. Er besuchte so viele Orchesterproben, wie es nur ging und besprach sich mit Luc Balmer, wenn es terminlich möglich war, wöchentlich. Er saugte alles auf, was ihm der Musikdirektor erzählte, stellte auch kritische Fragen zu Interpretationen, die er in der Probe oder im Konzert gehört hatte, und Balmer war ihm ein geduldiger Lehrer, der sich viel Zeit für ihn nahm und geduldig auf alle Fragen, die Victor drängten, eine Antwort wusste.
»Ein hochinteressanter junger Mann«, meldete er Professor Glauser. »Ein bisschen ungestüm vielleicht, aber sehr wissbegierig auf alles, was mit Musik zu tun hat. Wann gedenkst du, ihn einmal vor ein Orchester stehen zu lassen?«
*
Selbstverständlich war man im Konservatorium gespannt darauf, wie denn der großmäulige Victor, dem niemand etwas recht machen konnte und der sich immer auf die Wahrheit der Partitur berief, wie denn dieser sich selber als unfehlbar gebende junge angehende Musiker bei einer Orchesterleitung sich in Szene setzen konnte.
Man ließ ihn vors Konservatoriums-Orchester stehen und konnte schon nach der ersten Probe erschreckte Gesichter bei den Musikern feststellen, die mit schüttelnden Köpfen beteuerten, unter solch einem Klugscheißer und Tyrannen nicht mehr spielen zu wollen.
Professor Glauser wollte dem jungen Studenten allerdings eine faire Chance geben und setzte innerhalb des alle Jahre stattfindenden Vortragszyklus, in dem junge Konservatoriumsschüler ihre Talente zur Schau stellen konnten, ein Symphoniekonzert aufs Programm mit einem Ad-hoc-Orchester, bestehend aus Schülern und Lehrern, sowie einigen musikbegeisterten Zugewandten, unter der Leitung von Victor Steinmann.
Es stand eine Haydn-Symphonie auf dem Programm, und im zweiten Teil sollte er eine junge Schülerin namens Emma Forster bei Mozarts A-Dur-Klavierkonzert begleiten.
Victor war alles andere als begeistert, als er hörte, dass der Höhepunkt des Abends ein Klavierkonzert sein sollte, kein Werk also, in dem er sich in Szene setzen konnte, sondern wo er brav begleiten musste. Dass eine Frau den Solopart spielen sollte, ging ihm grundsätzlich gegen den Strich, denn er vertrat damals strikt die Meinung, dass Frauen auf dem Gebiet der Musik nichts verloren hätten. Er korrigierte seine Ansicht später zwar noch leicht, sollte aber immer Mühe damit haben, wenn eine Frau sich nicht seinen musikalischen Ideen unterordnen wollte und ließ sich nicht selten sein Entgegenkommen sexuell vergüten.
Die Proben zu Mozarts Klavierkonzert wurden also zur Machtdemonstration des jungen Maestros.
Er war schon vor den Orchesterproben mit Emma ein paar Mal zusammen gesessen und hatte mit ihr die Konzeption des Werkes besprochen, das heißt, er hatte versucht, ihr seine Ideen einzutrichtern. Das Mädchen, bloß ein paar Jahre jünger als Victor, hatte sich ihm im ersten Moment strikt widersetzt und auf dem Standpunkt beharrt, dass der Dirigent bei einem Instrumentalkonzert prinzipiell die Ideen des Solisten zu unterstützen und zu begleiten habe.
Victor stellte sich stur und rannte nach der zweiten Besprechung mit der Pianistin zu Professor Glauser, um ihm vorzujammern, dass das Mädchen sich nicht der symphonischen Einheit unterordnen könne und dass eine Zusammenarbeit unter solchen Umständen absolut unmöglich sei – und ob es in diesem Falle nicht einfacher wäre, im zweiten Konzertteil eine der späteren Mozart-Symphonien aufs Programm zu setzen, die keine größeren Verzögerungen auf den Plan rufen würde, da er sämtliche Partituren natürlich bereits im Kopf habe.
Paul Glauser wollte von den Ideen seines hochgeschätzten Protegés nichts wissen und meinte, dass dieser Knackpunkt von Victor zu lösen sei und dass Überzeugungskraft und Kompromissbereitschaft auch Eigenschaften seien, über die ein Dirigent zu verfügen habe.
»Es fehlt ihm an Empathie und Taktgefühl«, klagte Glauser bei Luc Balmer. »Er kann nicht auf andere Menschen eingehen, und er weigert sich, andere Ideen auch nur zu prüfen, geschweige denn zu akzeptieren.«
»Lass ihn nur machen«, riet Balmer. »Er muss noch viel lernen, auch wenn er meint, bereits alles übers Dirigieren zu wissen.«
Victor zog sich schmollend zurück und bereitete sich auf die wenigen Proben vor, die ihm mit seinem Ad-hoc-Orchester zur Verfügung standen. Die Musiker atmeten nach jeder Probe auf, wenn sie vorbei war. Der Maestro war unerbittlich und forderte den Musikanten alles ab, überschätzte dabei völlig ihre Fähigkeiten und war nicht bereit, seine hohen Klangvorstellungen zu Gunsten der vorhandenen Ressourcen zurückzuschrauben und zu korrigieren.
Die Proben mit Emma Forster erwiesen sich als noch mühsamer; Victor ließ sie ihren Part spielen und ging mit dem Orchester überhaupt nicht auf ihre Ideen ein, sondern dirigierte eisern seine Konzeption des Werkes, die sich von den Vorstellungen des Mädchens deutlich unterschied. So kam es, wie es kommen musste.
Die Aula des Konservatoriums war bis auf den letzten Platz besetzt. Man hatte noch zusätzlich Stühle hinstellen müssen, und trotzdem hatte es mehrere Zuhörer, welche keinen Sitzplatz mehr hatten ergattern können und die, an den Wänden verteilt, ihre Stehplätze bezogen hatten. Paul Glauser hatte für den Auftritt seines Schützlings eifrig Werbung betrieben, und so befanden sich auch bekannte Größen aus der Schweizerischen Musikszene im Publikum. Auch Luc Balmer hatte sich unter den Zuhörern eingefunden und wartete in der ersten Reihe neben Paul Glauser gespannt auf die Darbietung.
Etwas weiter hinten saß Zuckerfrank neben Mademoiselle Szábo in einem zerknitterten Anzug, der ihm viel zu klein war. Er bot seiner Nachbarin ein Stück Schokolade an, doch diese lehnte höflich ab und blickte diskret in die andere Richtung, um sich wegen seines starken Mundgeruchs frische Luft zuzufächeln.
Auch Victors Eltern hatten ihr Kommen angekündet, doch Bruno war kurzfristig zu einem Notfall gerufen worden, und die Mutter wollte nicht alleine so spät am Abend noch aus dem Haus gehen – zudem litt der kleine, einjährige Berner Sennenhund, ihr neues, verhätscheltes Haustier, an einem kräftigen Durchfall, den es peinlichst genau zu beobachten galt.
Die Aufführung geriet zu einer kleinen Katastrophe. Die Haydn-Symphonie vermochte noch einigermaßen zu überzeugen, obschon kein gesamtheitlicher Bogen zu erkennen war, die Musiker hatten Victors hohe Vorgaben nicht umsetzen können.
Der Applaus war wohlwollend und wohl eher an die Orchestermusiker gerichtet, um sie für ihre Geduld zu belohnen, die sie für die Zusammenarbeit mit Victor aufgebracht hatten. Die Orchesterleistung war zwar ansprechend, die heiklen Passagen wurden gut gemeistert, und trotzdem nahm man die aufgestaute Spannung zwischen dem Dirigenten und seinen Musikern deutlich wahr.
Das Gleiche konnte beim Klavierkonzert festgestellt werden. Emma Forster setzte sich großartig ein und konnte dem Werk durchaus gerecht werden. Das Orchester konnte dies auch, doch die beiden Teile waren einfach nicht auf einen Nenner zu bringen; Tempo und Phrasierung der Solistin und des Orchesters gingen deutlich auseinander.
Das Publikum schenkte Emma warmen Beifall, sobald aber Victor neben sie trat, nahm die Heftigkeit des Applauses deutlich hörbar ab. Es waren sogar ein paar Buh-Rufe zu hören. Victor kümmerte sich nicht darum; ehrwürdig verbeugte er sich, als würde er die Unzufriedenheit im Publikum weder spüren noch zur Kenntnis nehmen.
»Das war nicht schlecht, mein Junge«, lobte Mademoiselle Szábo, welche nach der Aufführung nach wohlwollenden Worten suchte. »Für das erste Mal gar nicht schlecht. Ist noch ein weiter Weg, um der neue Professor Furtwängler zu werden, aber mit deinem eisernen Willen wirst du auch das meistern.«
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