Die Seminaristin erwiderte zwar Victors leidenschaftliche Küsse und fühlte sich in seinen Armen geborgen, doch der Sex war für sie unwichtig und das erste Mal für ihre Verhältnisse noch weit entfernt. Fasziniert hing sie Victor an den Lippen, wenn er von Musik erzählte und war beeindruckt von seinem enormen Fachwissen, das er geschickt in ihre gemeinsamen Gespräche einfließen ließ.
Sie dagegen erzählte ihm von ihren pädagogischen und didaktischen Erkenntnissen, die sie im Seminar gewonnen hatte und welche Schlüsse sie daraus für ihren zukünftigen Unterricht zog. Pestalozzis ganzheitlicher Ansatz von Kopf, Herz und Hand war ihr ein großes Anliegen und Jean Piagets Entwicklungsmodell fand sie bedenkenswert. Mit Abscheu hatte sie hingegen Sigmund Freuds Sexualtheorien in seinem Abriss der Psychoanalyse gelesen und das Büchlein anschließend sofort angewidert in den Abfall geworfen.
Sie schwärmte ihm vor, wie sie sich vorstellen könne, mit ihm gemeinsam einmal Kinder zu haben – vier sollten es mindestens sein –, und wie sie dann ganz in ihrer Rolle als Mutter aufgehen und auf ihn warten würde, während er als großer Dirigent die Welt bereiste.
Victors Interesse für eine eigene Familie war ziemlich gering, zu sehr war er damit beschäftigt, seine musikalische Karriere in Gang zu bringen, aber er hütete sich davor, Charlotte diese Gedanken anzuvertrauen – einerseits hatte ihm die rosarote Brille, die er momentan trug, ein ungewohntes Harmoniebedürfnis beschert, und andererseits dachte er pausenlos daran, wie er sie so rasch wie möglich ins Bett kriegen könnte.
Neben der Zeit mit Charlotte wurde der Rest seines Lebens komplett von den schönen Künsten eingenommen. An erster Stelle stand natürlich die Musik, aber auch die Literatur sowie die bildende und darstellende Kunst weckten zwangsläufig stark sein Interesse, da sie seine Auseinandersetzung mit musikalischen Werken ständig tangierten und ihm dabei auch neue Zusammenhänge aufzeigen konnten.
Vor allem der Bereich Film hatte es Victor sehr stark angetan, da er dieses Medium als die absolute Verschmelzung sämtlicher Künste betrachtete. So saß er oft im Kino, häufig alleine und manchmal in Begleitung, so wie an diesem Abend, als er sich gemeinsam mit Mademoiselle Szábo Alfred Hitchcocks Psycho angesehen hatte, zu dem er Charlotte Arnold nicht hatte überreden können.
Nach dem Film standen sie noch vor dem Kino Bubenberg und ließen Norman Bates’ Geständnisse am Schluss des Werks auf sich wirken. Victor fröstelte, und das lag nicht an diesem doch eher milden Wintertag, sondern an den effektvollen Bildern, die der Master of Suspense , wie der englische Regisseur auch genannt wurde, kunstvoll aneinandergereiht hatte.
»Es ist wie eine perfekte Komposition«, erklärte er seiner ehemaligen Klavierlehrerin, die sich eine Zigarette anzündete, allerdings ohne sie zu inhalieren. Sie rauchte gelegentlich, vor allem wenn sie sich aufregte, und einen Glimmstängel in der Hand zu halten, verlieh ihr ein Gefühl von Ruhe und Ausgeglichenheit.
Verächtlich stieß sie den Rauch gegen Victor aus, der sich mit der Hand frische Luft zufächelte. »So ein Unsinn, mein Junge!«, zischte sie. »Sag mir doch bloß: Weshalb muss man solch schreckliche Filme machen, wenn es doch schon genug Elend auf dieser Welt gibt. Sollte man sich im Kino nicht unterhalten können?«
»Also, ich habe mich prächtig unterhalten«, lachte Victor, der von der Bildersprache Hitchcocks so gefesselt gewesen war, dass er prompt vergessen hatte, Bernard Herrmanns stakkatoartige Violinen bei der berühmten Duschszene mitzudirigieren.
»Ich weiß nicht«, meinte Mademoiselle Szábo kopfschüttelnd und drückte die Zigarette aus, die nicht einmal bis zur Hälfte heruntergebrannt war. »Muss man denn jeden Mist gut finden, bloß weil er aus Amerika kommt?«
Victor wollte soeben zu einem Loblied auf die Unterhaltungsindustrie Hollywoods grundsätzlich und auf Alfred Hitchcock im Besonderen anstimmen, als er hinter seinem Rücken eine wohlbekannte Stimme vernahm:
»Na, Mozart, wie hat dir der Streifen gefallen?«
Grinsend drehte er sich um. »Ich bin nicht Mozart.«
»Natürlich bist du das nicht, mein Junge«, ergänzte Mademoiselle Szábo ganz aufgeregt, und Victor wandte sich wieder seiner ehemaligen Klavierlehrerin zu, um sie über das übliche Begrüßungsritual und die damit verbundenen Sticheleien aufzuklären, die er mit Helene Weber auszutauschen pflegte.
Er hatte die Wilde Lena, wie sie hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, bei seinem Professor kennengelernt. Sie studierte Germanistik im letzten Semester und schrieb an ihrer Abschlussarbeit, in der sie sich mit Berner Literatur auseinandersetzte und in der die Berner Rhapsodie , die Novelle, welche Paul Glauser vor ein paar Jahren verfasst hatte und die ziemlich unbeachtet geblieben war, einen besonderen Platz erhalten sollte.
So traf Victor die beiden in Glausers Arbeitszimmer in ein Gespräch vertieft. Der Professor stellte die beiden einander vor.
»Du bist also dieser widerspenstige Taktschläger, von dem man spricht«, begrüßte sie ihn mit einem breiten Grinsen, mit dem sie ihre perfekten, strahlend weißen Zähne präsentierte und sich auffordernd durch ihre rotes, glattes Haar strich. Victor war sprachlos und rang nach den richtigen Worten, um diese provokative Eröffnung zu parieren. Es fiel ihm nichts Passendes ein, Schlagfertigkeit hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu seinen Stärken gezählt. So meinte er einfach ganz beiläufig, indem er seine Brust demonstrativ nach vorne warf: »In voller Größe.«
Sie lachte und warf dabei ihren Kopf nach hinten. Dann musterte sie ihn herausfordernd. »Solche Leute gefallen mir! Wenn wir hier fertig sind, werden wir uns einen kräftigen Schluck genehmigen.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, verbunden mit der Aufforderung, sich aus dem Raum zu entfernen, was sie dadurch noch unterstrich, indem sie ihm den Rücken zudrehte und sich wieder ihrem Gesprächspartner zuwandte.
Verblüfft schloss Victor die Tür. Er hatte es noch nie erlebt, dass sich eine Frau so direkt ausdrückte. Ihre smaragdgrünen Augen, die listig unter den roten Strähnen hervorstrahlten, hatten ihn in ihren Bann gezogen, und so setzte er sich gespannt unter die Lauben vor dem Konservatorium, wartend bis Helene Weber ihr Gespräch beendet hatte und vertiefte sich in eine Taschenpartitur von Brahms’ Deutschem Requiem .
Sie ließ ihn fast eine Stunde lang warten, und er erwog während dieser Zeit ein paar Mal nach Hause zu gehen, anstatt auf eine Unbekannte zu warten, die ihn mit ein paar Worten abgespeist hatte. Doch die Neugier auf diese bemerkenswerte Frau ließ ihn ausharren.
Als sich schließlich die Tür öffnete und Helene Weber unter die Lauben trat, wollte sie sich bereits nach rechts Richtung Zeitglockenturm wenden und losmarschieren, als sie Victor auf den Stufen sitzend erblickte, der in seine Partitur vertieft zu sein schien und so tat, als sitze er zufällig dort und nehme sie gar nicht wahr.
»Mein Gott, das glaube ich nicht. Du hast tatsächlich auf mich gewartet!« Sie setzte sich zu ihm auf die Stufen, nahm ihm das Taschenbuch mit dem gelben Einband aus der Hand und musterte mit gerunzelter Stirn den Titel. Victor schielte auf ihre großen, vollen Brüste, deren Ansatz im Ausschnitt ihrer freizügig geschnittenen Bluse demonstrativ zur Schau gestellt waren, und stellte sich vor, wie er sie mit seinen Händen kraftvoll umfassen würde.
Einen Blick auf Charlotte Arnolds Busen hatte er noch nicht erhaschen können – meistens trug sie modisch und elegant geschnittene Etuikleider, wenn sie sich verabredeten –, aber in seinen Fantasien hatte er lustvoll ihre Brustwarzen geküsst und sanft ihre Erhebungen gestreichelt, die allerdings im Vergleich mit Helene Webers Vorbau von sehr geringem Ausmaß waren.
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