„Herr Winkler“, sagt sie zu ihm, „es ist vielleicht besser, wenn Ihr Besuch unter uns bleibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Mutter glücklich wäre, wenn sie davon erfährt. Wir können uns ja einmal rein zufällig auf dem Friedhof begegnen und uns dann erst kennenlernen. Warum unnötig neue Probleme heraufbeschwören.“
Er nimmt Juttas Hand und drückt sie fest. „Vielen Dank. Es hat mir sehr gut getan, mit Ihnen zu reden.“
Jutta nimmt die Tassen vom Tisch und stellt sie in den Geschirrspüler. Danach legt sie sich auf die Couch.
„ Töchter gibt’s. Da sollte sich meine Mutter doch mal darüber Gedanken machen. Der Enkel von Herrn Winkler tut mir leid. Wie kann eine Mutter sich nur so egoistisch verhalten?“ , denkt sie.
Die Ereignisse und die Erschöpfung der letzten Wochen haben sie so geschafft, dass sie nach dieser guten Nachricht einfach einschläft.
Im Traum findet sie sich auf einer großen Wiese wieder. Sie sieht ein älteres Paar, das Hand in Hand spazieren geht. Die beiden drehen sich zu ihr um und winken. Sie erkennt Herrn Winkler und ihre Mutter. Glücklich winkt sie zurück. „Mama, sieh mal wie ich reiten kann“, hört sie ihre Tochter rufen. Jenny sitzt auf einem Pferd und galoppiert an ihr vorbei. Sie winkt auch ihr zu. Plötzlich spürt sie, dass Arme sie von hinten umschlingen. Sie dreht sich um. Markus sieht sie liebevoll an und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. So zufrieden hat sie sich noch nie gefühlt und wünscht sich, dass dieser Moment ewig hält.
„Mama, ich bin wieder da. Mama! Wieso schläfst du um diese Uhrzeit?“, ruft Jenny und rüttelt sie unsanft an der Schulter.
Langsam kommt Jutta zu sich. Sie kann sich nur schwer von diesem Traum lösen.
„Ich muss wohl eingeschlafen sein“, sagt sie verträumt und seufzt. „Wie war es auf dem Reiterhof? Hast du fleißig geübt, damit ich dich morgen bewundern kann?“
„Ich trainiere jeden Tag. Oma Hedwig freut sich schon, dass sie dich mal wiedersieht. Sie hat gesagt, dass ich dir sehr ähnlich wäre. Ich weiß aber nicht, ob ich darüber glücklich sein soll.“
„Du kannst doch nicht einfach Oma zu Frau Schumann sagen“, sagt Jutta und ignoriert Jennys Bemerkung einfach, denn sie will sich nicht schon wieder ärgern.
„Doch“, erwidert Jenny. „Sie hat es mir gleich angeboten. Alle sagen Oma Hedwig zu ihr. Und bevor du weiter rummeckerst, wir sagen auch Onkel Heinrich zu ..... Onkel Heinrich“, sagt sie und bemerkt, dass sie gar nicht weiß, wie Onkel Heinrich mit Nachnamen heißt. „Nur Andy sagt Chef zu ihm.“
„Das gefällt deiner Oma sicher nicht“, sagt Jutta. „Sie war früher schon nicht gut auf Frau Schumann zu sprechen, weil wir uns bei ihr so wohl gefühlt haben. Ich habe nichts dagegen, wenn du deine Freizeit auf dem Reiterhof verbringst, solange du die Schule und mich nicht vernachlässigst“, sagt Jutta.
„Ja, ja und Papa und Oma und Opa und Cynthia und dann vielleicht noch das Baby“, sagt Jenny genervt und verdreht die Augen. „Muss ich wirklich eine ganze Woche zu denen? Bitte, bitte, Mama, tue etwas dagegen. Ich kann Cynthia nicht ausstehen und ihr geht es mit mir genauso. Das wird der reinste Zickenkrieg. Sie lässt sich bestimmt anmerken, dass ich ihr auf die Nerven gehe. Oma und Opa schlagen sich sicher auf der ihre Seite, weil die ja bald den langersehnten Erben anschleppt, und ich stehe wieder alleine da. Und hier werde ich sooo viel verpassen. Ich bin jetzt schon traurig.“
„Ich kann dir dabei nicht helfen. Ruf doch Nicole mal an. Ihr habt euch länger nicht gesehen und versteht euch vielleicht wieder besser. Oder du unternimmst mit Oma etwas, dann vergeht die Zeit schneller“, schlägt Jutta diplomatisch vor. „Außerdem bist du noch ein paar Tage hier. Vielleicht hängt dir das Rumgereite bis zur Abfahrt zum Hals raus und du bist froh, dass du so lange bei Papa sein darfst.“
„Niemals werde ich genug von Lumpi bekommen!“, sagt Jenny entschieden. „Das hättest du wohl gerne? Aber da mache ich dir einen Strich durch die Rechnung. Du wirst morgen staunen, was der für ein Prachtkerl ist.“
Am nächsten Tag sagt Jutta zu Olli, dass sie Mittag gern Schluss machen möchte.
„Das ist kein Problem. Du warst fleißig genug. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen und mir Gedanken wegen deiner Einstellung gemacht. So lange Tom noch mein Partner ist, kann ich nicht allein darüber entscheiden. Er wird sicher nicht zustimmen. Sowie ich ihn aber los bin, machen wir Nägel mit Köpfen.“
Als es klopft, rufen beide herein und müssen darüber lächeln.
Markus steckt seinen Kopf durch die Tür.
„Ihr habt gerade eine Besprechung? Dann komme ich später wieder.“
„Komm nur rein“, sagt Olli. „Was gibt es?“
„Ich wollte Jutta eigentlich zum Mittagessen einladen“, sagt er und sieht sie fragend an.
„Oh“, sagt Olli, „dann mach mal. Ich will nicht stören.“
Olli steht auf und verlässt schmunzelnd das Büro.
„Wie wäre es mit uns beiden? Würden Sie mit mir zu Mittag essen?“, fragt Markus freundlich.
Mit heiserer Stimme antwortet Jutta: „Ich habe schon eine Verabredung.“
„Das wusste ich nicht“, sagt Markus enttäuscht. „Dann vielleicht ein anderes Mal.“
„Ja, vielleicht“, stammelt Jutta, „trotzdem, danke für die Einladung.“
Als sie wieder allein an ihrem Schreibtisch sitzt, muss sie an ihren Traum denken. Ein Prickeln durchflutet sie. Sie fühlt sich wohl und geborgen. Am liebsten würde sie zu ihm gehen und ..... „Stopp! Du dumme Pute“ , ruft sie sich in Erinnerung. „Er ist verheiratet – leider.“
Sie atmet mehrmals tief durch und konzentriert sich wieder auf die Arbeit. Ihre Gedanken driften jedoch ständig zu Markus. Sowie sie die Augen schließt, sieht sie ihn vor sich. Ihr Herz hämmert. Sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Verzweifelt packt sie ihre Sachen zusammen und verlässt fluchtartig das Büro. Sie ist erleichtert, nicht noch einmal auf Markus zu treffen.
„Tschüss, bis morgen“, ruft sie Frau Wiehmer zu.
Schnell läuft sie zum Parkplatz, springt in ihr Auto und fährt davon.
Markus steht am Fenster und schaut ihr hinterher.
Als Jutta auf dem Reiterhof ankommt, hat sie sich etwas beruhigt. Sie sieht in den Spiegel und stellt fest, dass sie noch ganz rote Wangen hat. Um sich etwas zu beruhigen, atmet sie tief durch.
Weit und breit ist kein Mensch zu sehen.
„ Na, hoffentlich machen die keinen Tagesausritt. Dann bin ich umsonst hier“ , denkt sie und geht zur Reiterklause.
Bereits im Vorraum hört sie lautes Kindergeplapper. Sie öffnet die Tür und schaut sich suchend um.
Christines Mutter kommt auf sie zu. „Jutta, das ist aber schön, dass ich dich mal wiedersehe. Lass dich anschauen. Gut siehst du aus, ein bisschen müde vielleicht. Wie geht es dir?“
„Guten Tag, Frau Schumann. Nun fehlt nur noch, dass Sie sagen, ich wäre groß geworden“, scherzt Jutta.
„Ach was, das warst du ja schon immer. Deine Tochter ist dort am zweiten Tisch. Ein sehr aufgewecktes Mädchen. Die reitet, als wäre der Teufel hinter ihr her. Schade, dass sie schon vierzehn ist. Ein bisschen spät für einen Reitanfänger. Aber lieber spät als nie, wie Heinrich zu sagen pflegt.“
„Wer spricht hier mit meinen Worten?“, donnert eine Stimme aus der Küche.
„Heinrich, komm mal bitte. Ich möchte dir Christines Schulfreundin vorstellen. Sie ist die Mutti von Jenny.“
„Na, da will ich mir die Mutti von unserem Wunderkind mal ansehen.“
Mit einem kräftigen Handschlag und freundlichem Lächeln begrüßt er Jutta.
„Guten Tag, Herr Schumann. Ich hoffe, Jenny hat keinen Ärger gemacht.“
„Ihr jungen Mütter immer“, schüttelt er den Kopf. „Du musst doch wissen, was du deiner Tochter bisher mit auf den Weg gegeben hast und kannst davon ausgehen, dass sie sich vorbildlich benimmt. Ich habe selten ein Mädchen hier, das ohne zu murren alle Arbeiten übernimmt und mit so viel Leidenschaft Mist wegkarrt“, lacht er Jutta an.
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