An Jennys wechselndem Gesichtsausdruck kann sie die entsprechenden Gedankengänge ablesen. Sie muss innerlich grinsen. Äußerlich verzieht sie keine Miene.
„Du meinst, die waren auch alle nur bei den Hörnis?“ stellt Jenny logischerweise fest.
Nun grinsen beide, jedoch ohne sich anzusehen. Sonst wären sie in lautes Gelächter ausgebrochen und dass das unangebracht wäre, ist sogar Jenny irgendwie bewusst.
„Und warum machen die mir dann die ganze Zeit die Hölle heiß?“, fragt Jenny wieder ernst und nachdenklich.
„Weil Erwachsene oft so sind. Und Hörnis gehen nicht auf die Realschule, sondern Schüler, die etwas mehr Zeit zum Lernen brauchen, denen eben nicht alles zufällt. Was nützt es, wenn du dich jahrelang quälst und dann bekommst du keinen Studienplatz, weil das Zeugnis zu schlecht ist? Bemühe dich, damit du einen guten Abschluss auf der Realschule machst, dann hast du viele Möglichkeiten für eine Lehrstelle. Papa hat gesagt, wir sollen machen was wir wollen. Also, was willst du?“
Jenny grübelt. Ihr Kopf wackelt dabei hin und her.
„Ich würde schon lieber in der Schule mehr verstehen und nicht vor den Hausaufgaben sitzen, als wäre alles in einer anderen Sprache. Und außerdem kennt mich hier ja niemand. Die wissen nicht, dass ich hängengeblieben bin und lachen mich nicht aus.“
Jutta lässt ihrer Tochter Zeit, diesen Vorschlag zu überdenken.
„Und wenn Oma und Opa mit mir meckern. Was soll ich dann sagen?“, fragt Jenny.
Jutta überlegt angestrengt, denn sie will ihrer Tochter gern noch einen pädagogisch wertvollen Rat geben. „Dann fragst du sie nur, ob du ihre Zeugnisse mal sehen darfst.“
Jennys Gesicht hellt sich auf. Sie lacht das erste Mal seit Wochen sogar laut und Jutta stimmt mit ein. Dank Rüdigers großzügiger Möbelspende erschallt das Gelächter in angenehmer Zimmerlautstärke.
Was hätten sonst die Nachbarn gedacht?
Frisch getrennt, alleinerziehend mit Kind.
Was hat die schon zu lachen?
Eine Woche ist seit Lydias Zusage, Tillys Klasse auf großer Fahrt zu begleiten, vergangen, und schon steht sie früh an der Schule und wartet mit allen anderen auf den Bus. Bevor ihr jedoch Zweifel kommen können und sie den Rückzug antritt, macht Frau Berger sie mit Hannes Vater bekannt.
„Das ist Herr Schulze.“
Er beugt sich zu Lydia und sagt: „Du kannst ruhig Hans zu mir sagen.“
Sie sieht ihn abschätzend an und denkt: „Er ist wirklich groß und kräftig und wirkt auf die jugendliche Truppe Respekt einflößend. Da kann ich mich bei der Betreuung vielleicht etwas zurückhalten.“
Sie reicht ihm die Hand und stellt sich vor: „Lydia Bach.“
„Ich bin so froh, dass Sie sich bereit erklärt haben mitzukommen“, sagt Frau Berger zu Lydia. „Es ist zurzeit sehr schwer, Begleitpersonen zu finden, denn meine Kollegen wollen auch nicht mehr an Klassenfahrten teilnehmen.“
„Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich. Meine eigenen Klassenfahrten liegen Jahre zurück. Außerdem mache ich Tilly damit eine Freude“, antwortet Lydia.
Der Bus kommt pünktlich. Alle Schüler steigen ein – besser gesagt, die meisten Jungs rammeln in den Bus und die Mädchen glauben wohl, je lauter sie schreien, umso besser sind ihre Plätze.
Herr Schulze winkt Lydia zu. Als sie sich unbemerkt an seinem Sitz vorbeischleichen will, flüstert er: „Setz dich doch zu mir. Ich habe so eine bezaubernde junge Frau wie dich schon lange nicht mehr neben mir gehabt.“
Er zwinkert ihr überflüssigerweise auch noch zu.
„ Das kann ja was werden“ , denkt sie und lehnt sein Angebot ab, um sich einen Platz in einem großen Abstand zu ihm zu suchen.
„Herr Schulze, es ist besser, wenn wir Erwachsenen uns aufteilen“, sagt Frau Berger zu ihm.
Lydia sieht sie erleichtert an.
Für die lange Fahrt hat sie sich einen MP3-Player eingepackt. Sie dachte, dass sie während der langen Busfahrt endlich Zeit hätte, in Ruhe etwas Musik zu hören, denn die Kids können ja nicht weit weg und brauchen noch keine Aufsicht.
Schon bald wundert sie sich über die Unruhe. Alle sind immerzu irgendwie in Bewegung und reden laut durcheinander. Sie benehmen sich wie die Hühner, wenn der Fuchs im Stall auftaucht.
Nach zehn Stunden kommen sie endlich in der Jugendherberge an.
Wie die Kinder eingestiegen sind, so wollen sie auch wieder aus dem Bus raus – mit Gedränge und Geschrei.
Der Fahrer verteilt das Gepäck. Auch dabei geht es laut zu.
Einem Mädchen fehlt der Schminkkoffer, den sie gerade in diesem Augenblick unbedingt brauchen würde.
Ein Junge meint: „Der hat sicher während der Fahrt die Flucht ergriffen, denn der hat es bei dir auch nicht mehr ausgehalten.“
Ein anderer fügt lachend hinzu: „Guck mal, Cindy. Dort sind junge Männer. Schnell, leg noch eine Schicht Farbe auf, damit die dich nicht gleich so genau erkennen.“
Cindy verzieht das Gesicht und sieht aus, als würde sie gleich anfangen zu heulen.
Frau Berger beruhigt sie.
„Es wird sicher alles wieder zum Vorschein kommen. Wo sollte der Koffer denn sein? Der Gepäckraum war die ganze Zeit verschlossen.“
Zum Glück kann Cindy das unentbehrlichste aller Stücke noch in Empfang nehmen.
Als sich alle ihre Sachen genommen haben, informiert Frau Berger die Schüler, dass die Jungs im ersten Stock des Haupthauses und die Mädchen in einem Anbau untergebracht sind.
„ Das freut mich, denn der Herr Schulze muss bei den Jungs bleiben“ , denkt Lydia.
Frau Berger versucht, alle zu übertönen und ruft in die Runde: „Ihr geht jetzt in eure Unterkünfte und packt aus. In einer Stunde treffen wir uns wieder hier auf dem Vorplatz.“
Es versammeln sich dann auch alle und schreien schon wieder oder besser gesagt, immer noch, durcheinander.
„Ruhe bitte“, ruft Frau Berger.
Leider kann sie damit nichts erreichen.
Plötzlich erschallt neben Lydias Ohr ein schriller Pfiff. Erschrocken dreht sie sich um.
Herr Schulze zwinkert ihr schon wieder zu und sagt: „So macht man das bei dieser Hammelherde!“
Da die Schüler sofort still waren, bleibt seine unangebrachte Bemerkung über die Truppe nicht ungehört.
Er fängt sich von Frau Berger einen strafenden Blick ein. Als sich die meisten von dem Schreck erholt haben, geht das Geschrei weiter.
„ Wenn er diese Hammelherde länger ruhighalten will, muss er an seinem Pfiff noch arbeiten“ , denkt Lydia und hofft, keinen bleibenden Hörschaden zu behalten.
Die Vorschläge für Unternehmungen weichen sehr von den gegebenen Möglichkeiten ab.
Disco, Shopping, Drachenfliegen, Kino, Rafting .....
An der Rezeption hatte Lydia Flyer gesehen und schickt Tilly hin, um einige zu holen. Sie kommt mit einem Stapel verschiedener Prospekte zurück und verteilt diese. Es setzt wirklich kurz Ruhe ein.
Frau Berger schlägt den Schülern vor, sich in kleinere Gruppen aufzuteilen und zu beraten.
Bereits kurze Zeit später maulen ein paar Mädchen, und sagen mit Nachdruck, dass sie auf keinen Fall wandern werden.
„Nun wartet doch erst einmal ab, was für Vorschläge von den anderen kommen“, sagt Lydia etwas genervt. „Und statt zu sagen, was ihr alles auf gar keinen Fall tun wollt, solltet ihr euch Gedanken darüber machen, wozu ihr überhaupt bereit seid.“
Sie setzt sich mit einem Flyer auf eine Bank im Schatten.
Nach einer Weile kommt Tilly zu ihr und fragt: „Was machst du so alleine hier?“
„Ich wünsche mich gerade ganz weit weg“, antwortet Lydia spontan. „Aber ich habe scheinbar die richtige Zauberformel vergessen.“
Tilly guckt traurig. „Bereust du es jetzt schon sehr, dass du mitgekommen bist?“
„Sehr vielleicht noch nicht. Man muss eben das Beste daraus machen. Wir lassen uns so viel einfallen, dass selbst das faulste Kind in Bewegung kommt und am frühen Abend darum bettelt, ins Bett gehen zu dürfen.“
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