Die Patienten allerdings, die mit ihren Infusionsständern, Rollstühlen oder Insulinpumpen das Café aufsuchten, fand er interessant. Mit jedem Zug an einer Zigarette, mit jedem Schluck Kaffee und mit jedem Spruch, den sie klopften, drückten sie ihren Lebenswillen aus. Immer war irgendwo ein Handy in Betrieb, mit dem man Kontakt aufnehmen konnte zur normalen Welt zu Hause. Hier war es auch nicht so wie in den Wirtschaften draußen, wo sich jeder an einen Einzeltisch setzt. Die Kranken suchten die Nähe der anderen. Viele konnten sich nur langsam vorwärtsbewegen und es war schon von weitem deutlich, welchen Tisch sie ansteuerten. Es geschah oft, dass jemand in ein Gespräch verwickelt war, noch bevor er Platz genommen hatte. Ein unerschöpfliches Thema waren ihnen ihre Krankheiten, die Termine der bevorstehenden Operationen und erst recht die geplanten Entlassungen nach Hause. Das, was sie emotional bewegte, musste auch versprachlicht werden: Man bewertete die Qualität der Ärzte und vor allem die des Essens. Die Unzufriedenen hatten an allem etwas auszusetzen und es gab nur Einzelne, die darauf hinwiesen, dass sie nicht wegen des Essens im Krankenhaus seien. Diejenigen, die nichts essen durften, machten ihrem Ärger dadurch Luft, dass sie die Höhe des Tagessatzes in Frage stellten. Wie konnte der so hoch sein, wo sie doch nicht einmal etwas zum Beißen bekamen? Jeder konnte einen Vortrag halten über seine spezielle Krankheit und vergaß am Ende nicht die Bemerkung, dass er sich damit viel besser auskenne als sein Arzt, denn der müsse im Unterschied zu ihm über viele verschiedene Krankheiten Bescheid wissen. Außerdem würde im Internet etwas ganz anderes stehen über die Behandlungsmöglichkeiten als das, was sie hier mit den Patienten anstellten. Andere dagegen schienen bereit, für ihren Arzt durchs Feuer zu gehen. Sie sangen Loblieder auf ihn und es fehlte nur noch, dass er auch Tote wieder lebendig machen konnte. Nur über ihre Ängste sprachen sie nicht: die schien es nicht zu geben. Aber sie waren betroffen, wenn sie draußen den Leichenwagen vorfahren sahen. Dann war zum Glück gerade die Infusionsflasche leer und sie mussten zurück auf ihre Station, sich eine neue anhängen lassen. Oder man musste zur Krankengymnastik oder man bekam ein Bad verpasst – es gab viele Gründe, warum man ausgerechnet dann nicht bleiben konnte. Letztlich waren sie alle froh darüber, zu denjenigen Patienten zu gehören, die ihr Bett verlassen und sich selbständig ins Café begeben konnten. Aber das Eis, auf dem sie gingen, war dünn. Sie wussten, dass oben auf den Zimmern ganz andere Patienten lagen – hinter sich ihr hoffnungsvolles Leben und vor sich das schwarze Nichts. Und eines Tages würden sie dort dazugehören, auch wenn sie jetzt eine ganz andere Perspektive hatten.
Strickmann hatte auch schon dazugehört. Von diesen Erfahrungen rührte sein Bewusstsein von der Kostbarkeit der Zeit und dass sich sein Leben innerhalb von Sekunden grundlegend ändern konnte: eine ungünstige Diagnose eines Arztes, eine vereiste Stelle auf der Straße oder eine kleine technische Panne an seinem Wagen, und nichts würde mehr so sein, wie es gewesen war. Daher rührte seine Abneigung gegen Partys, gegen Small Talk und gegen repräsentative Verpflichtungen. Das alles hielt ihn nur von den Dingen ab, die er für wichtig hielt: ein Gespräch mit einem Freund, eine Nacht mit einer interessanten Frau, die Lektüre eines Buches oder einen Spaziergang am Rhein . Zumindest vorläufig machte das für ihn sein Leben aus und damit wollte er möglichst viel seiner knappen Zeit verbringen.
Seine Gedanken wurden durch eine Krankenschwester unterbrochen, die ihm die Gewebeprobe brachte. Er las das Auftragsformular durch und bemerkte, dass er die Probe nur einem bestimmten Professor aushändigen durfte:
"Das war am Telefon nicht ausgemacht. Was ist denn, falls er nicht da ist?"
"Es ist ausgemacht, dass er da ist."
"Auch Professoren haben Verkehrsunfälle oder werden krank. Oder es gab einen Notfall und er steht im OP."
Die Schwester wurde unsicher, Notfall-OPs kannte sie.
"Ich kann bis 10.00 Uhr warten. Soll ich die Probe dann einfach abgeben oder wieder mit zurückbringen?"
"Einen Moment bitte, ich hole jemanden."
Nach ein paar Minuten erschien ein jovialer älterer Herr in Weiß. Sein Namensschildchen wies ihn als Professor aus. Strickmann stellte sich vor und erklärte ihm das Problem.
"Man muss nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, junger Mann. Es ist natürlich undenkbar, dass Sie die Probe wieder mit zurückbringen. Ich rufe bei meinem Kollegen in Paris an. Sie sagten der Schwester, sie könnten bis 10.00 Uhr zu warten? Das würde reichen. Im schlimmsten Fall geben Sie es jemandem im Haus. Ich schreibe es so in Ihren Auftrag."
Wieder einmal bestätigte sich Strickmanns Erfahrung, dass am oberen Ende der Karriereleiter eine gewisse Großzügigkeit möglich ist. Haarspaltereien kommen dort viel seltener vor. Vielleicht kommt die innere Distanz, die dazu Voraussetzung ist, erst mit einer gewissen Erfahrung. Oder man weiß erst dann, wie hoch der Preis für Engstirnigkeit ist. Oder man steht nicht so sehr unter Druck.
Sie unterschrieben beide, Strickmann überflog die beiliegenden Informationen und machte sich auf den Weg nach Hause. Wäre es nicht doch besser gewesen, von Freiburg aus direkt nach Paris zu fahren? Er hätte viel Zeit gespart und unterwegs schlafen können. Das nächste Mal vielleicht. Jetzt freute er sich auf eine Dusche und sein Bett zu Hause; auf die Fahrt durch den Sundgau mit seinen carpes frites und seinen ockerfarbenen Maispflanzen auf den Feldern bis zum Horizont.
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