Sylvia Obergfell
Die silberne Flöte
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Inhaltsverzeichnis
Titel Sylvia Obergfell Die silberne Flöte Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Impressum neobooks
„Bleib sofort stehen, du kleiner Dieb!“ rief der große, breitschultrige Mann mit dichtem schwarzen Vollbart aufgebracht, stürmte los und stieß jeden, der ihm in den Weg kam unsanft zur Seite, während er immer wieder mit donnerndem Bass diesen Satz wiederholte. Misha drückte den Apfel fest gegen seine Brust, duckte sich unter den Armen der Erwachsenen hindurch, wobei er an den einen oder anderen anstieß, dabei wüst beschimpft wurde und hielt nach einem geeigneten Unterschlupf Ausschau. Misha brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn er war ein geübter und geschickter Dieb. Seine Hände waren so schnell, dass die meisten Leute es erst einige Zeit später erfuhren, dass sie beklaut worden waren und wenn man ihn dennoch erwischte, war er ein Meister im davon haschen und untertauchen, sein Körper war klein und schlank, seine Beine schnell und flink und seinen Augen entging kein Versteck. Dennoch war er heute besonders aufgeregt und sein Herz raste, hauptsächlich deswegen, weil er nicht mit diesem Temperamentsausbruch des Mannes gerechnet hatte, vor allem nicht wegen eines Apfels.
„Haltet ihn, er ist ein Dieb!“ schrie der Vollbärtige jetzt, so laut, dass man es wohl noch in den naheliegenden Häusern hören konnte und tatsächlich versuchte ein junger Bursche nach Misha zu greifen, wahrscheinlich versprach er sich eine Belohnung. Misha war aber schneller. Er drehte sich blitzschnell zur Seite und lief zwischen zwei Ständen hindurch, um den Markt zu verlassen, allerdings war sein Verfolger hartnäckiger als er gedacht hatte und setzte mit riesigen Schritten hinter ihm her. Mishas Atem ging jetzt schneller, die kalte Luft stach in seine Lungen und vor ihm lag die vielbefahrene Hauptstraße. Er wandte sich nach links, sah aber aus den Augenwinkeln, dass sein Verfolger dicht hinter ihm war. Er beschleunigte seine Schritte und sah vor sich die buntflimmernden Lichter des Rummelplatzes. Wenn er den erreichte ließ sich leicht ein Versteck finden. Er rannte noch schneller, hatte den ersten Wagen schon fast erreicht, da verfing sich sein Schuh an einem Stein und er stürzte vornüber. Er schrammte hart mit beiden Knien über den Boden, spürte etwas nach sich greifen und rollte sich im letzten Moment zur Seite. Er sprang wieder auf die Füße und schon war er zwischen den Wagen hindurch, aber sein Verfolger war nun zu dicht hinter ihm und so hatte er keine Chance sich zu verstecken. Kaum war Misha um die Ecke, öffnete sich eine Wagentür, eine starke Hand zog ihn ins Innere und –zack- war die Tür wieder zu. Es ging so schnell, dass er gar keine Zeit hatte zu reagieren, aber er sah durch ein schmutziges, kleines Fenster neben der Tür, wie sein Verfolger vorbeischoss. Jetzt da sich seine Augen an das Halbdunkel des Wagens gewöhnt hatten, konnte er auch seine Retterin erkennen. Es war eine Frau mit einer üppigen Figur, die eine seidene Bluse und mehrere Röcke übereinander trug und ihre Augen dick geschminkt hatte. Sie hatte braune Haare, die mit einem Tuch zusammengebunden waren und stank fürchterlich nach Parfüm.
„Na mein Junge“, meinte sie mütterlich, „du musst vorsichtiger sein das nächste Mal.“
Misha hatte keine Lust zu antworten, außerdem wollte er so schnell wie möglich wieder zur Tür hinaus, aber die Frau streckte ihren Arm aus und hielt sie zu. „Nun, nicht so schnell“, sagte sie freundlich, „Wie wäre es mit einem heißen Kakao?“
Misha rang mit sich selbst. Einerseits hörte sich das Wort Kakao zauberhaft an, er hatte lange keinen mehr getrunken, andererseits war er nicht die Person, die einem fremden Menschen vertraute, er konnte ja nicht mal seinem Vater trauen. Schließlich nickte er und die Frau führte ihn zu einem Tisch mit einer Bank, wo er sich setzte.
„Du musst besser aufpassen!“ wiederholte die Frau, während sie am Herd hantierte.
„Ich bin noch nie erwischt worden“, meinte Misha gleichgültig.
Außerdem war es ja egal, ob der Obststandbesitzer ihn verprügelte oder sein Vater zuhause, weil er nichts mitgebracht hatte, aber das sagte er natürlich nicht. Heute war er sehr erfolgreich gewesen und hatte zwei Geldbörsen und eine Handtasche gestohlen. Der Apfel war für ihn gewesen, weil er Hunger gehabt hatte.
„Damit ist nicht zu spaßen“, warnte ihn die Frau, während sie eine Tasse mit dampfendem Kakao vor ihn hinstellte. „Erst gestern habe ich gesehen, wie eben dieser Mann einen jungen Dieb fast zu Tode gewürgt hat.“
Misha begann genüsslich das warme Getränk zu schlürfen. Als Kind hatte er öfter Kakao getrunken, als seine Mutter noch gelebt und sein Vater noch nicht getrunken hatte, aber heute hatte er fast vergessen, wie wunderbar er schmeckte. „Lebst du auf der Straße?“ wollte die Frau wissen und da es Misha gerade so gut ging, war er sogar bereit zu antworten.
„Nee, bei meinem Vater, aber der säuft den ganzen Tag nur und deshalb muss ich Geld ranschaffen.“
Er beobachtete bei diesen Worten ganz genau das Gesicht der Frau, denn meistens gelang es ihm damit die Erwachsenen zu schockieren oder wenigsten ihr Mitleid zu erwecken, aber sie lächelte nur und meinte: „Dann bist du also der Familienernährer.“
Misha war das unheimlich, also sah er wieder in seine Tasse.
„Hast du schon einmal etwas anderes probiert als stehlen?“ wollte sie plötzlich wissen und Misha fühlte sich in die Enge getrieben, also lehrte er mit einem hastigen Zug seinen Kakao und sprang auf.
„He“, besänftigte ihn die Frau aber sogleich, „du brauchst nicht zu antworten, wenn du keine Lust hast.“
Misha fand etwas Besonderes an ihr, also setzte er sich wieder. Sie sah aus, wie eine Frau aus einem Märchen, eine Hexe, nur dass sie nicht hässlich war. Ihr Gesicht war alt und zu sehr geschminkt, trotzdem ließ sich ihre Schönheit erahnen. Als junge Frau musste sie sehr hübsch gewesen ein. Sie lächelte und Misha wurde bewusst, dass er sie anstarrte, deshalb senkte er schnell den Kopf. „Gefall ich dir?“ fragte sie und der überrumpelte Misha wusste gar nicht, was er darauf sagen sollte.
„Na, ja“, murmelte er schließlich, „Sie sehen nicht so aus wie andere Leute.“ Die Märchenfrau lachte, beugte sich zu ihm hinunter und fragte flüsternd: „Und du, bist du wie die anderen Menschen?“
So hatte noch nie jemand mit Misha gesprochen, aber er fühlte sich plötzlich ganz entspannt und geborgen. Er schüttelte den Kopf und begann sich im Wagen umzusehen. Überall lagen oder hingen seidene Tücher herum, auf dem Tisch vor ihm lag ein Stapel Zeitschriften, außerdem stand links von ihm eine alte Holztruhe, die mit allerlei Schnitzereien verziert war.
„Wie alt bist du jetzt?“ fragte die Märchenfrau, während sie aus dem Schrank in der Kochecke eine Schachtel Kekse holte und vor ihn hinstellte.
Gierig griff Misha danach und steckte sich gleich zwei auf einmal in den Mund. Zwischen kauen und schlucken erwiderte er: „Zwölf.“
Die Märchenfrau sagte eine Weile nichts, sondern sah ihm beim Essen zu, dann stand sie auf, ging hinüber zu der Truhe und öffnete sie. Sie winkte Misha und zog einen länglichen in ein Seidentuch gewickelten Gegenstand heraus. Misha trat neugierig näher.
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