Silvia Boadella
Die tragende Haut
Von Geburt und Sterben
Roman
© 2014 Silvia Boadella
© 2014 der deutschsprachigen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2018
Titelbild: Sophie Taeuber-Arp: Composition à motifs d’oiseaux, 1928 Foto: Peter Schälchli Portraitfoto: Christine Kocher
Foto: Peter Schälchli Portraitfoto
Portraitfoto: Christine Kocher
Zitat „Hervorkommen ins Tageslicht“: Übersetzt von Silvia Boadella, nach einer englischen Version von David Boadella
Zitat S. 28: Dschalal ad-Din ar-Rumi: „Jenseits aller Ideen“: Übersetzt von Silvia Boadella, nach einer englischen Version von Coleman Barks
Hergestellt von mediengenossen.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-218-4
Inhalt
1 Der Ruf
Vorklang
Einklang
Nachklang
Nachtfahrt
Heimkehr
Allegro
Duft
Vergessen und Erinnern
Licht
Friedenston
Wiederklang
2 Eine Ankunft
Kommt durch!
Treffpunkt
Ruf der Geliebten
Wehentrommel
Schmerzen
Auf!
Hellwach
Weisungen
Geburtskanal
Pressen
Erregung
Kommt an!
Muskelsäulen
Krönung
Staunen
Alchemie
Geburtsbad
Ansprache
Glück
Feiern
Willkommen!
Die erste Nacht
Im Himalaya des Gebärens
In der Stille des Stillens
Die Gondel am silbernen Drahtseil
Metamorphosen im Winter
Das Unglück
Patty Gold erscheint
Frühlings Erklingen
Sommerlust
Ablösung im Frühherbst
3 Abschied und Neubeginn
Hingabe
Altern
Sinn und Unsinn
Herzschlag
Offene und geschlossene Türen
Unschuld
Das Ende beginnt
Übergabe
Schnee aufgetischt
In Ordnung bringen
Der Spaziergang
Die Stille der Nacht
Tot aufgefunden
Wache
Drei Steine
Aufbahren
Leere
Klagen
Sonnenaufgang
Verlust
Lebenslustlinien
Aufgabe
Tieratem
Flammen
Erscheinungen
Himmelsweg und Erdkanal
Verflüchtigung
Zeichen
Asche
Feuerreflex und Purpur
Würdigung
In den Wind
Auf die Welt
Du bist!
Bist du?
Fluss
Im Wasser des Werdens
Bin ich?
Ich bin!
Mittelpunkt
Universum
Dialog
Getragen
Danksagung
Zur Autorin
Ich bin aus den ursprünglichen Wassern geboren worden,
bevor es einen Himmel gab, um ihn einzuatmen,
bevor es eine Erde gab, um darauf zu stehen,
bevor es Berge gab am Horizont.
Ich bin geboren worden, bevor es etwas zu bekämpfen gab.
Ich bin geboren worden, bevor es etwas zu fürchten gab.
Aus dem ägyptischen Buch Pert em Hru
(Hervorkommen ins Tageslicht)
Der Ruf
Vorklang
Das Telefon klingelt, ich nehme ab und höre nur ein einziges Wort: „Komm!“ Es ist Monikas Stimme. Sie erreicht mich aus einer entfernten psychiatrischen Klinik in unserem Haus im Alpenvorland.
Soll ich wirklich gehen? Nur weil sie sagte: „Komm!“ und dann den Hörer auflegte? Mein Kopf zögert noch: Ruf in der Klinik an, finde zuerst heraus, was vor sich geht. Sara, unsere Freundin, ist gerade zu Besuch, da ist mein Kind und mein Hund, und nichts ist organisiert für eine Reise. „Geh erst in ein paar Tagen, bereite alles in Ruhe vor“, meint Dennis, mein Mann, beschwichtigend. Doch mein innerster Impuls sagt mir: Geh jetzt! Trotzdem telefoniere ich noch mit der Klinik. Ina, Monikas Krankenschwester, bestätigt mir: „Ihr Zustand ist bedenklich. Sie verweigert seit einigen Tagen das Essen und seit heute Morgen trinkt sie nichts mehr.“
Monika will also sterben. Und sie will es mit mir. Monika ist meine Stiefmutter, lange Zeit hatten wir es schwer miteinander. Komm! Dieses eine Wort von ihr schwingt in mir nach, wie ein Grundton des Vertrauens: Mirjam, ich zähle auf dich, ich brauche dich. Jetzt. Ich rufe sie nochmals an: „Monika, ja, ich komme. Ich fahre morgen zu dir.“ – „Wann bist du da?“ – „Um die Mittagszeit.“ – „Wann genau?“ – „Ich fahre um halb zehn von hier los und treffe dann um elf am Bahnhof bei dir ein. Von dort nehme ich ein Taxi zur Klinik“, erkläre ich ihr, damit sie meinen Weg zu unserer Begegnung kennt. „Um zwanzig nach elf bin ich da.“ – „Gut“, sagt sie. Sie stellt nun ihre innere Uhr auf diese Verabredung ein. Ich packe warme Sachen und etwas zum Übernachten ein. In ihrem Zimmer werde ich mir ein Bett hinstellen lassen und sie in diesem Prozess nicht mehr verlassen. Ich stelle mich auf eine längere Zeitspanne ein. In meine Handtasche stecke ich noch einen dünnen Band mit Gedichten. „Wann bist du wieder zurück?“, bedrängt mich meine Familie. – „Zeitpunkt unbekannt.“ – „Glaubst du wirklich, dass Monika stirbt?“, fragt Dennis. „Ja, ich bin mir sicher.“
Ich wusste nicht, dass Monika schon seit Frühlingsbeginn ins Sterben eingetreten war. Ina erzählte mir später: „Ich musste sie im Rollstuhl oft ans offene Fenster schieben. Da schaute sie dann stundenlang in den Park hinaus. Sie schien heiter dabei.“
Monika sah in den aufblühenden Frühling: ins grüne Gras, in die gelben Primeln, sie nährte ihre Seele mit Blüten. Ich selber hörte seit Frühlingsbeginn Beethovens Frühlingssonate, sie erfüllte mich ebenfalls mit Heiterkeit.
Mitten in der Nacht sinke ich in ein tiefes Vertrauen hinein. Ich liege auf dem Bett und habe gleichzeitig das Gefühl, in etwas wie Luft zu ruhen, von der ich getragen werde. Es kommt mir dabei vor, als würde ich hinübergetragen in eine andere Welt.
Am nächsten Morgen trete ich reisebereit vor das Haus. Ich blicke kurz über die Hügel auf den weiten See hinunter, der am Horizont in den Himmel aufsteigt.
Wie ich im Zug sitze und durch die blühende Landschaft fahre, höre ich Beethovens Musik in mir erklingen und sehe den Frühling in einer unbekannten, strahlenden Kraft. Ich fahre durch ein goldenes Licht hindurch, im Geburtskanal der Ankunft. Ankunft wohin? Ankunft ins Sterben.
Noch nie habe ich ein Sterben miterlebt. Meine Mutter starb, als ich noch fast ein Kind war, und mein Vater hielt mich von ihr fern. Alles, was ich von ihr noch zu Gesicht bekam, war eine versiegelte Urne. Er selber starb später so plötzlich, dass ich auch bei ihm nicht dabei sein konnte.
Einmal erst in meinem bisherigen Leben habe ich einem Toten ins Angesicht gesehen. Es war der Sohn meiner Freundin, der kurz nach der Geburt im Kindbett gestorben war und danach in der Kapelle des Kinderspitals aufgebahrt wurde. Ich spürte eine Distanz zu ihm, er sah für mich wie ein wächsernes Püppchen aus. Ich konnte alles nur von außen wahrnehmen und das schmerzte mich. Damals war ich befremdet. Wie eine Fremde in einem fremden Geschehen.
Mit Monika bin ich nun mittendrin, in diesem gemeinsamen Geschehen, im Gold der Morgensonne. Unterwegs blühen mir die Obstbäume zu und grüßen mich mit ihrem festlichen Glanz.
Einklang
Wie versprochen bin ich mit dem Taxi vorgefahren. Punkt zwanzig nach elf betrete ich das Gebäude. Da ich damit rechne, dass ich von nun an ununterbrochen in Anspruch genommen werde und dass es in dem Schlafzimmer der Klinik mit seinen geöffneten Fenstern kühl sein wird, suche ich noch eine Toilette auf und ziehe mich wärmer und schon so bequem an, dass ich mich in ein Bett neben sie legen kann, um bei ihr zu bleiben. Denn dies werde ich mir von der Klinik erbitten. Ich rechne mit einem Prozess durch Tage und Nächte. In mir ist zeitlich alles offen. Ich gehe durch die Gänge der Klinik auf die gerontologische Abteilung zu. Von fern ist mir bewusst, dass ich als ein anderer Mensch durch diese Gänge zurückkehren werde, als ich sie jetzt durchschreite.
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