Ich schaue in die Dunkelheit hinein. Manchmal sehe ich auf meiner Seite zu Lichtern von erleuchteten Häusern hinüber, manchmal reflektieren von der anderen Seite her Lichter auf meiner Fensterscheibe. Ich erinnere mich plötzlich an den Gedichtband, den ich vor meiner Abreise in die Tasche gesteckt hatte, und krame ihn zwischen Fahrkarte, Haarbürste und Handy hervor. Darin steht ein Gedicht von Rumi, das mich schon seit Jahren begleitet. Wie wird es heute zu mir sprechen? Ich schlage es auf und übersetze für mich:
Jenseits aller Ideen von falschem und richtigem Tun gibt es ein Feld: Dort werde ich dir begegnen . Wenn die Seele sich ins Gras hinlegt, ist die Welt zu voll, um darüber zu sprechen .
Wieder einmal leuchten mir Rumis Zeilen entgegen. Ich atme auf. An diesem Ort sind wir uns begegnet, in deinem Sterben und auch oft davor. Diese Momente zählen. Es sind innere Trittsteine zwischen uns, und solange ich mich an sie erinnere, sind sie unvergänglich.
Ich sehe wieder eine späte Begegnung mit dir vor mir. Ich sitze an deinem Bett. Deine Hand sinkt in meine, mager, sehnig, gelblich. Ich spüre, wie sie ihr Gewicht abgibt und sich mir anvertraut, als würde sie sagen: Gut, dass du da bist. Deine Augen erreichen meine. Dein Blick liegt hellbraun, mit leichtem Goldglanz auf mir. Unsere Augen berühren sich zärtlich, berühren tief drinnen unser innerstes Wesen. Worte? Keine. Unsere Augen finden sich wortlos in einer Frage, einer Fragebewegung ins Offene, die zu meinem Erstaunen eine Frische in sich birgt.
Nun werde ich wieder erfüllt von deinem Sterben, Monika. Mein Bedürfnis, es zu verstehen, ist tief. Fragen kommen, Antworten gehen, ich lausche in mich hinein. Wie ist es möglich gewesen, all dies mit dir zu erleben? Ich hörte zu dir hinüber, du grüßtest zu mir herüber. Wir lauschten gemeinsam in einen Raum dazwischen, und darin entstand die Freiheit, den Übergang von einer Welt in eine andere zu erfahren.
Warum diese innige Nähe zwischen uns? Ich wollte dich dorthin begleiten, wohin du gingst, du wolltest mich dahin grüßen, wo ich verblieb. Dies öffnete weit alle Sinneskanäle: Ich vernahm den Ton, sah das Licht, roch die Süße des Duftes und schmeckte Vergessen und Erinnern. Ich berührte dich von hier aus und du mich von dort aus. Unsere Liebe umspannte beide Welten. Ist das nicht erstaunlich, Monika? Du warst doch früher für mich immer wieder die „böse Stiefmutter“ und ich für dich das „schwierige Stiefkind“. Und jetzt hat diese gemeinsame Erfahrung so viel Schweres verwandelt.
Vieles klingt nach. Was erkenne ich zuerst?
Die Bewegung: Ich hatte deutlich das Gefühl, als würdest du dich von der Erde zurückziehen, weg vom Raum unterhalb deiner Füße, hinaufziehen in deinen Herzinnenraum. Ich erinnere mich wieder, wie ich mit dir hier verweilte, mein Ohr an deinem Herzen, bis ich oberhalb deines Kopfes ein Licht spürte. Bist du da hinaufgestiegen und hast dich durch das Licht wie durch ein unsichtbares Tor hindurchgezogen, hinüber? Ich erinnere mich noch genau: Zu dem Zeitpunkt, als ich das Licht wahrnahm, atmetest du aus und nicht wieder ein.
Oder doch? Ich hatte das Gefühl, es „atme“ noch, so als würdest du woanders weiteratmen. Hast du da wieder eingeatmet? Hast du mit dem letzten Ausatmen hier losgelassen, um dort anzukommen? Und wer begrüßte dich dort bei deinem ersten „Einatmen“? Hast du dabei geseufzt wie damals mein neugeborenes Kind bei seinem ersten Atemzug? Ich höre noch sein „Ah!“ Höre ich deines?
Ein Resonanzraum von Sterben und Geborenwerden klingt in mir an. Träume ich schon halb? Müde bette ich meinen Kopf in den flauschigen Mantel. Zu Hause werde ich alles meiner Familie erzählen.
Heimkehr
Ich komme nach Hause und stoße die Tür auf. Niemand ist da, niemand erwartet mich, niemand heißt mich willkommen. Du hast dich ja auch nicht angekündigt, beruhige ich mich. Ich stelle den Koffer im Eingang hin, gehe die paar Treppenstufen zum Wohnzimmer hinauf und öffne die Tür. Was für ein Anblick: Da thront die junge Collie-Hündin Patty Gold wie eine Königin auf meinem Sofaplatz. Sie weiß genau, dass sie da nicht hingehört. Weil sie nicht mehr unentdeckt hinunterspringen kann, dreht sie elegant den Kopf von mir weg und schaut zum Fenster hinaus in die Nacht, als würde ich so nicht mehr für sie existieren, als könnte sie sich durch die Drehung ihres Halses unsichtbar für mich machen. Wie ein kleines Menschenkind, denke ich erheitert. Und wer sitzt vor ihr im Ledersessel vor dem Fernseher, zu einer Zeit, wo er schon längst schlafen sollte, und lässt vergnügt die Beine baumeln, versunken in ein Videospiel? Mein Sohn Tim. Ich erhasche mit einem Blick eine Sequenz auf dem Bildschirm. Er spielt wahrhaftig „Perfect Dark“, ein Spiel, das ich verboten und versteckt habe, nachdem es einst heimlich in unserem Haus Einzug hielt. Es geht in diesem Spiel darum, Menschen so gezielt wie möglich mit Pistolenschüssen in die perfekte Dunkelheit zu befördern.
„Was geht denn hier vor?“, durchbreche ich lauthals und streng die konzentrierte Stille. Tim schaut auf, überrascht: „Du bist schon zurück? Ist Monika schon gestorben?“ Geistesgegenwärtig knipst er das verbotene Spiel vom Bildschirm weg. Doch die Hülle der Kassette liegt verräterisch neben ihm auf dem Boden. Soll ich schimpfen oder ihm auf die Frage antworten? Da ich selber noch so sehr von Monika erfüllt bin, blende ich für dieses Mal mein mütterliches Erziehungsethos aus und antworte einfach: „Ja.“ – „Du bist doch erst heute Morgen abgereist“, meint Tim. In seiner Stimme ist die Enttäuschung nicht zu überhören, dass ich schon wieder da bin und es mit der neu gewonnenen Freiheit bereits vorbei ist. Aber zugleich tritt auch eine große Neugier in sein Gesicht: „Geht Sterben denn so schnell?“
„Bei Monika schon“, gebe ich zur Antwort und drehe den beiden kurz den Rücken zu, um nach Dennis und Sara zu rufen. Da höre ich, wie Patty mit einem Satz vom Sofa hinunterspringt und sich am Boden auf ihr Schaffell setzt und Tim rasch die Hülle der Videokassette unter seinen Sessel schiebt. Ich drehe mich sofort wieder um. Patty schaut mich mit einer Unschuldsmiene an, als wäre nichts gewesen, was Tim, von sich ablenkend, lachend kommentiert: „Sie weiß doch genau, dass dein Platz auf dem Sofa für sie verboten ist!“ – „Aha, und du? Gehörst du nicht schon längst ins Bett? Und was spielst du da?“ Nun dreht Tim, wie vorher Patty, nur nicht mit derselben Anmut, den Kopf entschieden von mir weg, lässt mich so gezielt aus seinem Blickfeld verschwinden und ruft zur Türe hin: „Dennis, Sara, Mirjam ist zurück!“ Ich höre die beiden herbeieilen.
Allegro
Wir sitzen alle um den runden Glastisch bei einer Kanne Tee und tauschen uns über das Reich des Sterbens aus: Dennis, Sara, Tim und ich. Auf dem Boden liegt Patty Gold. Obwohl Patty noch nicht einmal ein Jahr alt ist, stellt sie aufmerksam ihre Ohren auf, wenn Wichtiges besprochen wird, während der achtjährige Tim in unserer Familie die Dialoge schon entscheidend mitgestaltet.
„Ist Monika friedlich gestorben?“, fragt Dennis sogleich. „Ja, es war unglaublich!“ Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll, alles will gleichzeitig aus mir heraussprudeln. „Erinnert ihr euch an Tims Geburt?“, suche ich einen Anfang. Ich erzähle, wie mir Monikas Sterben in vielem ähnlich erschien: „Wir waren beide in einem Geburtskanal, nur ging die Reise in die umgekehrte Richtung. Bei Tims Geburt musste ich damals zwei Tore aufstoßen, eins zum Himmel und eins zur Erde hin, damit er durch das untere Tor auf die Welt kommen konnte. Bei Monika war es, als würde ihre Energie wie Wasser durch ein Tor unterhalb ihrer Füße hinauffließen, danach lange in ihrem Herzen verweilen, bis sie sich dann durch ein Tor oberhalb ihres Kopfes zog, hinauf.“
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