Unterwegs komme ich an einem Warteraum mit einem Getränkeautomaten vorbei. Während ich noch schnell eine Tasse Kaffee zur Erfrischung trinke, holt mich eine schwierige Erinnerung ein.
Kurz nach der Geburt meines Kindes versetzte Monika mir einen Schlag. Unvermittelt erhielt ich auch damals einen Anruf. Das Telefon klingelte, und obwohl etwas in mir zögerte, meldete ich mich. „Du hast ein Kind geboren?“, fragte die Stimme am anderen Ende. Es war Monikas Stimme. Sie erreichte mich schon damals aus dieser psychiatrischen Klinik, wo sie seit einiger Zeit leben musste. Ich war überrumpelt: „Ja“, sagte ich einfach. „Soso“, antwortete sie. Schweigen. Ich versuchte mich aus der Überraschung heraus zu sammeln, doch bevor mir dies gelang, sagte die Stimme in barschem Ton: „Du kannst doch gar nicht mit einem Kind umgehen, du bist doch eine Intellektuelle!“ Und abrupt wurde das Gespräch abgebrochen. Die harsche Stimme verletzte mich. Durch die Nähe mit dem Neugeborenen war ich gerade besonders empfindsam. Ihre Verurteilung traf mich mitten ins Mark in jener Zeit, wo ich mich so sehr bemühte, alles richtig zu machen.
Der Abbruch des Kontaktes war wie ein Schnitt. Es muss auch Monika geschmerzt haben. Was für Verletzungen sind zwischen uns geschehen! Und doch ist eine Liebe zueinander gewachsen.
Ich stelle die leere Kaffeetasse hin, gehe weiter und nähere mich jetzt dem Zimmer 207. Aufgeregt und etwas scheu öffne ich die Türe. Da liegt Monika in ihrem Bett. Neben ihr sitzt die Krankenschwester. Sie atmet auf: „Gut, dass Sie kommen.“ Monika atmet stoßweise, ein langes Ausatmen, ein kurzes Einatmen. Der Rhythmus ist Staccato. Ihre Augen sind geschlossen, nach innen versenkt, sie begrüßen mich nicht mehr. „Sie liegt ja schon im Sterben!“, sage ich. „Wann ist sie in diesen Prozess eingetreten?“ – „Eben erst, vor fünfzehn Minuten“, antwortet Ina. Vor fünfzehn Minuten! Gemäß unserer Vereinbarung in dem Moment, als ich die Klinik betrat. Sie hat es also gespürt: Jetzt ist Mirjam da. Jetzt kann ich zu sterben beginnen. Sie hat ihre innere Uhr auf mich eingestellt, ohne auf eine äußere Uhr zu schauen. Wir haben uns an einem inneren Ort aufeinander zubewegt. Da findet unsere Begegnung statt, und hier arbeitet Präzision. Schwester Ina verlässt den Raum. „Rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen.“
Nun sind wir allein. Die Sonne leuchtet durchs Fenster. Ich setze mich zu deiner Linken an dein Bett. Meine liebe Monika! Wir sind zu zweit in diesem Sterben, in diesem Kanal der Ankunft. Was wird ankommen? Wir wissen es beide nicht. Es ist eine Reise ins Unbekannte. Du wirst etwas weiter reisen als ich. Wie weit kann ich mit?
Du atmest aus und aus. Ich erinnere mich an die Geburt meines Kindes. Atmete ich so in der Austreibungsphase, als sich sein Kopf durch die Enge des Geburtskanals schob? Was schiebt sich durch die Enge deines „Geburtskanals“? Ist er überhaupt eng? Was treibst du aus? Ist es deine Seele? Und was geschieht dabei mit uns beiden, mit meinem Ich, mit deinem Du?
Ich ergreife deine Hand, ich singe dir zu, wie lange weiß ich nicht, das Zeitgefühl hat aufgehört. Du atmest aus und aus. Ich singe dir zu. Ich spüre, dies tut dir gut. Du öffnest deine Augen nicht nach außen. Du schaust nach innen, tief in dich hinein. Hörst du mich? Ich glaube, ja. Manchmal spreche ich Worte der Ermutigung zu dir: „Gut machst du es, gut!“
Es gibt keinen Zweifel, was zu tun ist, ob ich singen soll, ob ich sprechen soll oder schweigen. Ich bin zuinnerst bei dir, in diesem gemeinsamen Geschehen, und handle. Handelt es in mir? Sterbe ich ein Stück weit mit? Werde ich mit gestorben?
Deine Geburtshelferin bin ich, die Hebamme deines Sterbens. Ich lege meinen Kopf nah an dein Herz und schaue deinen Körper hinunter, zum Fenster hinaus, in den Frühling. Draußen hat sich das Licht verändert, es dunkelt schon ein wenig ein. Ich fühle deine Füße unter der Decke. Wie geht es ihnen? Soll ich sie halten? Nein, sie ruhen schon. Sie wollen nicht ins Leben zurückgerufen werden. Ich meine zu spüren, wie all deine Energie hinauf zum Herz steigt und sich dort versammelt. Wie einen Fluss sehe ich sie aufsteigen. Wie Wasser – die Wasser des Lebens. Kurz stehe ich auf und fächle die Luft unterhalb deiner Füße körperaufwärts, dem Herzen zu. Ich habe das Gefühl, dass dies hilft, dass „die Wasser“ so noch besser fließen können, hinauf und hinauf. Ich nenne es „Wasser“, weil es fließt, aber es hat eher die Konsistenz von Luft. Es ist eine Art von fließender Energie. Wieder setze ich mich zu dir und lege meinen Kopf an dein Herz. Es ist ein inniges Gefühl, so bei dir zu liegen. Eine große Ruhe breitet sich aus in diesem gemeinsamen Herzraum.
Ich erinnere mich: Wir zwei. Du bist spät in unser gemeinsames Leben gekommen. Hast nach dem Tod von Mama Papa geheiratet. Zu dieser Zeit erhielten meine Schwester Rosa und ich eine Postkarte von dir. Zwei Rehlein waren darauf abgebildet. „Ich möchte euch Liebe schenken“, stand da. Das war nicht so einfach. Wir waren keine Rehlein, wir waren zwei verlassene Kinder, die Kinder von Mama. Und du die Stiefmutter. Durch viel Schweres sind wir da gegangen, du und ich: Schmerz, Eifersucht, Verrat und vieles mehr. Aber wir wollten doch beide nur das Beste. Und jetzt liege ich, dein Stiefkind, bei dir und begleite dich im Sterben. Du hast dich mir anvertraut. Etwas erfüllt sich.
Oft habe ich dich in dieser Klinik besucht. Ich versuchte dir in deiner Krankheit zu helfen, was sich als schwierig erwies. Du warst gemäß den Begriffen der Fachärzte psychotisch und depressiv. Und du warst wutentbrannt. Du schlugst die anderen Patienten, du beschimpftest alle, auch mich.
„Soll ich dir etwas erzählen?“, fragte ich dich einmal bei einem Besuch. „Ja, erzähl!“ So begann ich meine Geschichte: „Ich habe von dir geträumt. Du warst eine schöne Frau mit einem strahlenden Gesicht, doch ganz allein in einer Wüstenlandschaft. Neben dir standen zwei kleine Kinderschuhe. Ich glaube, dass du damals schon in die Wüste geschickt worden bist. Du vereinsamtest und dein Trauern begann. Aber du bist immer noch die schöne Frau. Und auch wenn du wütest und hässlich bist in deiner Krankheit, sehe ich dies nur als eine Maske. Wie immer du zu mir bist, Monika, spreche ich auch zu dir hinter der Maske, zu der Frau mit dem leuchtenden Gesicht.“
Du hörtest mir damals aufmerksam zu. „Du bist mein Liebstes“, sagtest du mir dann, „nur du verstehst mich.“ Und du vertrautest mir. So hast du mich auch gestern angerufen, zu der Zeit, wo deine Seele schon den Tod gerufen hatte. Du sagtest einfach: „Komm!“ Und ich kam.
Warum erinnere ich mich jetzt gerade an diesen Dialog? War dies das Wichtigste zwischen uns? Und woran erinnerst du dich? Ich weiß nicht, wie lange wir so nebeneinander liegen. Ich singe dir manchmal noch zu. Dein Atem ist ruhiger geworden. Nehme ich ihn noch wahr?
Da bemerke ich den Widerschein eines orangenfarbenen Lichtes. Es ist so stark, dass ich sofort annehme, jemand sei unbemerkt hereingekommen und habe eine Lampe mit einem orangenen Schirm angezündet. Ich setze mich auf, schaue mich um. Da ist gar keine Lampe, doch ich meine ein orangenes Licht um deinen Kopf zu erkennen und auch in der Weite über ihm. Sehe ich richtig? Ich blinzle, ich traue meinen Augen nicht: Ja wirklich, ich empfinde ein Licht um deinen Kopf. Es ist schön, wunderschön!
Ich stehe auf und halte mein Ohr an deinen Mund. Vernehme ich dich noch? Hat mich das Licht gerufen? Ich lausche an dir, zutiefst bewegt, ich höre dein letztes Atmen. Du atmest ein und aus. Ich schaue dich lange an. Dein Gesicht strömt Frieden aus, einen Friedenston.
Blick in den Garten hinaus, gelbe Primeln. Eine Musik erklingt. Sie kommt von innen. Es ist wiederum Beethovens Frühlingssonate, sie verströmt Leichtigkeit und Heiterkeit. Ich weiß nicht, wie lange ich so zuhöre. Hörst du mit, liebe Monika? Regungslos sitze ich da. Tiefe Ruhe, in mir, in dir. Das orangene Licht um deinen Kopf mit seiner unsichtbaren Lichtquelle ist verblasst. Im ganzen Raum begrüßt mich nun eine weiche, honigfarbene Atmosphäre.
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