Rolf Obergfell
Im Dreiländereck: Einsamkeiten
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Inhaltsverzeichnis
Titel Rolf Obergfell Im Dreiländereck: Einsamkeiten Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Im Dreiländereck:
Einsamkeiten
Roman
copyright 2012 Rolf Obergfell
Vorwort
Heute würde ich Wolf Strickmann gerne persönlich kennen lernen.
Das war nicht immer so. Nachdem L. – eine jahrelange Bekannte – mir eines seiner Tagebücher gegeben hatte, rührte ich es zunächst wochenlang nicht an: keine Zeit, keine Motivation. Das Intimleben anderer Leute interessiert mich nicht, ich habe mein eigenes. Außerdem kannte ich diese Frau nur oberflächlich und ich konnte mir nicht erklären, warum sie dieses Tagebuch ausgerechnet mir gegeben hatte.
Dann kam eine dieser schlaflosen Nächte, die es irgendwie zu überstehen gilt. Es war etwas mühsam, denn ich nehme keine Schlaftabletten und zähle keine Schäfchen. Da ich auch keine ernsthafte Lektüre zur Hand hatte, musste ich mich mit diesem Tagebuch begnügen. Ich begann wahllos, klappte es irgendwo in der Mitte auf und las ein Stück, überblätterte Seiten, fing an einer anderen Stelle von Neuem an. Als ich merkte, dass es kein Text war, der von Banalitäten lebte, nahm ich mir mehr Zeit und versuchte, mich in den Autor einzufühlen. Als ich endlich müde wurde, war es vier Uhr morgens geworden und ich hatte fünf Stunden gelesen.
Dabei blieb es nicht. Der Text beschäftigte mich, obwohl er große zeitliche Lücken aufwies und ich viele Anspielungen und Bezüge nicht verstand. Mit der Zeit begriff ich, dass da jemand darüber reflektierte, wie er sein Leben lebte – ohne sich etwas vorzumachen, ohne etwas zu beschönigen. Mein Interesse stieg.
Als Nächstes rief ich L. an und wir verabredeten uns in einem Café bei ihr um die Ecke. Sie redete über alles, nur nicht über dieses Tagebuch. So schnitt eben ich das Thema an, indem ich nach der Anzahl fragte. Wie viele er geschrieben habe, wisse sie nicht. Sie habe 15, lese gerade das achte. Auf meine Frage nach der Bedeutung dieser Tagebücher meinte sie versonnen, dass dieser Wolf ein Leben lebe, wie sie es sich in ihren Jugendträumen ausgemalt habe. Aber das Leben sei anders als Jugendträume und sie sei anders als er. Sie würde das Chaos in seinem Kopf nicht aushalten. Für einen Roman sei dieses Material aber allemal gut. Leider könne sie keine Romane schreiben. Und dann: Warum machst du das nicht?
Ich wollte nicht mehr wissen – was für eine Beziehung sie hatte zu ihm oder wie sie es mit der Vertraulichkeit in Bezug auf diese Tagebücher halten wollte. Es wären nur Scheingefechte geworden. Innerlich war ich bereit, diesen Roman zu schreiben, konnte es mir nur noch nicht eingestehen.
Als ich nach seinem Aussehen fragte, wich sie mir aus: unauffällig sei er, ein Gesicht in der Menge, wie du und ich. Zwar gelang es mir noch, ihr zu entlocken, dass er schwarzhaarig ist und eher groß. Das war aber auch schon alles – nach einem Foto habe ich nicht einmal zu fragen gewagt. Aus dem Tagebuch ging außerdem hervor, dass er Brillenträger ist, schlank und ohne Bart. Mit diesen Angaben lässt sich nicht gerade eine detaillierte Personen-beschreibung anfertigen und wahrscheinlich wäre er auf der Straße ein Fremder für mich. Von da an entwickelten sich die Dinge mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Ich sah Bilder zu diesen Texten, versah ich mit Stichwörtern und ordnete sie chronologisch. Das war etwa der Zeitpunkt, an dem ich mein Leben neu organisierte. Ich musste entscheiden, woher die Zeit kommen sollte, die ich für diese Geschichte brauchen würde. Am Anfang war es schmerzhaft, bestimmte Gewohnheiten aufzugeben. Mein Fernsehgerät, zum Beispiel, ist schon lange nicht mehr in Betrieb. Ich weiß nicht einmal, ob es noch funktioniert.
Meine Bekannte unterstützt mich bei meiner Arbeit, wann immer ich ihre Hilfe brauche. Aber eine Namensliste mit den Freunden Strickmanns hat sie mir nicht gegeben, einen Kontakt von mir zu ihm verhindert sie konsequent, nicht einmal seinen Wohnort kenne ich. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, das auch nicht zu recherchieren. Ich vermute, dass sie mir nicht einmal seinen richtigen Namen offenbart hat. Die entsprechenden Angaben im Text habe ich deswegen so ergänzt, dass sie in die Geschichte passen.
Was das Interesse von L. an diesem Roman ist, weiß ich immer noch nicht, es ist für mich auch nicht wichtig. Ich schreibe diesen Roman aus meinem eigenen Interesse an Wolf Strickmann.
Die Nacht war kalt und klar, mit Kristallen von Raureif auf der Straße und auf der Windschutzscheibe. Die fahle Sichel des abnehmenden Mondes hing wie nachträglich angeklebt am schwarzen Himmel, scharfkantig und schön. Die Sterne sandten ihr Licht als lange Folge von Pfeilen, ohne Schaden zwar, aber auch nicht freundlich. Da oben in der Verlassenheit des Alls und hier unten auf der Straße war niemand, mit dem er hätte ein Wort sprechen können.
Wolf Strickmann war allein und unterwegs mit seinem ersten Ermittlungsauftrag. Nach einer langwierigen Entwicklung, die seinen Freunden chaotisch und ziellos vorgekommen war, hatte er sein Leben radikal verändert. Er konnte nicht sagen, was er suchte oder wo er hinwollte, und hatte auch nicht ernsthaft erwartet, dass sich seine Freunde dafür wirklich interessierten. Aber nicht ein Einziger? Als er einige von ihnen danach gefragt hatte, worin sie den Sinn ihrer täglichen Routine sahen und ob sie sich nach etwas anderem sehnten, da waren sie schweigsam geworden. Solche Fragen stellte man nicht. Manche wechselten sofort das Thema.
Da war zum Beispiel M., der ihm bisher ein verlässlicher Freund gewesen war. Strickmann hatte mit ihm über jedes Problem reden können. Selbst als er vor ein paar Jahren eine kurze Phase gehabt hatte, in der ihm jegliches Interesse an Sex abhandengekommen war, konnte er sich ihm anvertrauen. M. hatte mit so etwas zwar keine Erfahrung, aber er war ein ernsthafter Gesprächspartner gewesen, auch wenn er immer wieder sein Erstaunen geäußert hatte. Wie man keine Lust mehr haben konnte, sich eine Nacht lang mit einer schönen Frau auszuleben und es ihr so zu besorgen, dass sie es später noch einmal haben wollte, das konnte er nicht verstehen. Er hatte gemeint, sein Problem bestünde darin, dass die Weiber ihn nicht mehr freigaben. Sie erschienen in seinem Leben wie das Gras im Frühling und verwandelten sich dann zu Kletten, die er nicht mehr loswurde. Aber nicht mehr geil zu sein, keinen Ständer mehr zu haben, nicht einmal mehr Lust, es sich selbst zu machen – mit solchen Vorstellungen war er überfordert.
Es war ein gutes Gespräch gewesen damals und es hatte Nähe und Verständnis geschaffen zwischen ihnen beiden, obwohl ihre Standpunkte sehr unterschiedlich gewesen waren. Ein Ergebnis davon war, dass sie einander nichts mehr vorzumachen brauchten. Sie konnten von da ab die Dinge beim Namen nennen. Und jeder nahm sich Zeit, wenn wieder einmal ein solches Gespräch anstand.
Bis Strickmann allmählich darauf kam, dass M. es meisterhaft verstand, sich in diesen Gesprächen selbst darzustellen. Er war der Typ, dem die Frauen nachliefen, der keine Mühe hatte, einen neuen Job zu finden, der Beziehungen hatte und der sich in der Welt auskannte. Es lief einfach bei ihm. Und das alles sah er natürlich als seine eigene Leistung an. Der Gedanke, dass auch Informatiker Konjunkturzyklen unterworfen sind und dass der Markt sich drehen kann, hätte ihn nur zu ungläubigem Staunen veranlasst. Dabei hatte er durchaus seine Probleme – seine Frau hatte ihn verlassen und mit seinem Herzen war etwas nicht in Ordnung. Aber
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