Rolf Obergfell
Rheinabwärts
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Titel Rolf Obergfell Rheinabwärts Dieses ebook wurde erstellt bei
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Rolf Obergfell
Im Dreiländereck (4): Rheinabwärts
Roman
copyright by Rolf Obergfell
"Mach los!"
Marit saß völlig entspannt in ihrem Steuerstuhl und sprach in ein Walkie-Talkie, das griffbereit neben ihr gelegen hatte. Luuk löste das vordere Tau, meldete Vollzug: Bug ist klar. Am Heck nahm ein Matrose das Tau vom Poller. Er hatte Sichtkontakt mit der Kapitänin und signalisierte ihr mit dem nach oben gerichteten Daumen, dass auch er bereit war. Sie winkte ihm lächelnd zu, wartete einen Augenblick und gab so vorsichtig Gas, dass keine Bewegung zu spüren war, nicht einmal die geringste Erschütterung durch die Maschine. Lediglich die Kaimauer und die Krane entfernten sich ganz langsam.
Wolf Strickmann war überrascht. Er hatte das Kommando Leggo! erwartet – vielleicht eine abgeschliffene Form des englischen Let go! Während seiner Suche nach einem Frachter hatte er es immer wieder gehört. Angeblich wurde es überall entlang des Rheins verstanden: Die Arbeiter in den Häfen würden es kennen, die Schleusenmeister, die Crewmitglieder der Frachtschiffe sowieso, selbst wenn sie aus Osteuropa kamen und kein Wort Niederländisch oder Deutsch beherrschten. Vom Schiffsführer rituell gesprochen, veranlasst es die Matrosen, die Haltetaue an den Pollern abzunehmen und sofort an Bord zu kommen: Das Schiff ist frei und kann seine Fahrt beginnen.
Für Strickmann war dieses Kommando wie ein Sesam, öffne deine Tür! Es würde ihm den Zugang zu einer Welt verschaffen, von der er 30 Jahre lang geträumt hatte. Er war an diesem Fluss groß geworden, kannte ihn wild, wenn im Frühling das Hochwasser eine Unmenge Treibgut mit sich führte, Äste, ganze Baumstämme, Bauholz und Plastikmüll; er kannte ihn ruhig und träge im Winter, wenn die Uferböschungen hoch über dem Wasser standen und alles Leben scheinbar zum Stillstand gekommen war. Heute gehörte das genauso zu seinen Kindheitserinnerungen wie die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, die er beim Schein eines Lagerfeuers gelesen und am nächsten Tag beim Angeln oder Schwimmen im Fluss mit demselben Gefühl von Freiheit erlebt hatte wie seine Helden. Oder wie oft er stundenlang am Ufer gesessen und die Schiffe beobachtet hatte, die sich beladen bis zum Rand stromaufwärts quälten, eine Bugwelle vor sich herschiebend, ihre Gangbord nur wenige Zentimeter über der Wasserlinie. Es waren vor allem Tanker gewesen, die ihre Fracht löschen wollten und damit den lebenswichtigen Saft herbeischafften für alles, was einen Motor hatte. Der Junge fand das grandios und schon allein die Tatsache, dass diese Stahlkolosse nicht untergingen, grenzte für ihn an ein Wunder. Wo gab es denn so etwas, dass Eisen schwimmen konnte? Er hatte es ausprobiert, mit verschieden großen Nägeln und einem Gefäß voll Wasser. Wie auch immer er die Nägel in den Topf befördert hatte – vorsichtig geworfen, schräg von der Seite oder behutsam auf die Wasseroberfläche gelegt: Eisen konnte nicht schwimmen. Diese Schiffbauer mussten einen Trick gefunden haben, dass es doch möglich war, und er würde das schon noch herausbekommen. Im Fernsehen schwammen zwar noch viel größere Schiffe, aber das waren nur Bilder, denen traute er nicht. Die meisten dieser eisernen Frachter kamen aus Rotterdam, andere Heimathäfen, mit fremd klingenden Namen, kamen viel seltener vor. Von ihnen hatte er noch nie etwas gehört: Nijmegen, Gent oder Dordrecht. Sie mussten in einem reichen Land liegen, wenn es dort so viel Öl und Kohle gab, dass die Leute davon ins Ausland verkaufen konnten. Vielleicht war dort sogar das Märchen vom Schlaraffenland entstanden. Dieselben Schiffe fuhren bald wieder in die Gegenrichtung, manche schon am nächsten Tag. Nun schienen sie auf dem Wasser zu tanzen, froh, ihrer Last ledig zu sein. Ihre Außenwände ragten meterhoch in die Luft. Mit leerem Bauch und beschleunigt von der Strömung jagten sie flussabwärts ihrem Ziel entgegen. Er kannte das von Pferden: Wenn es Richtung Stall ging, brauchte man sie nicht anzutreiben, sie beeilten sich von selbst. Viele dieser Schiffe kannte er mit Namen, denn er sammelte sie in einem Notizbuch, zusammen mit ihrer Nationalität und dem Datum, an dem er sie gesehen hatte. Diejenigen, die immer wieder kamen, wurden ihm vertraut und er stellte sich Szenen vor vom Leben an Bord. Ob die Kinder wohl den ganzen Tag angelten und deshalb jeden Abend Fisch essen mussten? Er aß gerne Fisch – aber jeden Abend? Ob sie sich nicht langweilten ohne Freunde? Und womit sie wohl spielten, wenn er im Winter mit seinen Geschwistern die Modelleisenbahn aufbaute? Wie oft sie wohl schon über Bord gefallen waren?
Was ihn sehr beunruhigte, war ein Wasserstrahl aus einem Loch in der Außenwand. Warum war dieses Wasser in ihrem Bauch? Wie er diese Frage auch drehte und wendete, es gab nur eine mögliche Antwort: Sie mussten schon einmal untergegangen sein und jetzt pumpte man das eingedrungene Wasser wieder heraus. Das Leben auf einem solchen Schiff war demnach nicht ungefährlich und es galt, vorsichtig zu sein. Noch mehr interessierte ihn allerdings ihr Ziel. Was da wohl war rheinabwärts, welche Städte, welche Länder? Eines Tages würde er dort hinfahren.
Ein Vierteljahr hatte er gebraucht, um den Verlust seiner Partnerin soweit zu verarbeiten, dass er wieder gerade denken konnte. Was ihm jetzt noch zu schaffen machte, war der Umstand, dass die Ermittlungen der französischen Polizei offensichtlich festgefahren waren. Es war der klassische Mechanismus: Ohne eine Verbindung zwischen Täter und Opfer in der Vergangenheit sind die Chancen auf eine Lösung eines Falles nur gering. Strickmann wusste nicht einmal, ob es überhaupt verwertbare Spuren gab. Da draußen lief einer herum, der ihn lieber tot sah als lebendig. Denn es war eindeutig, dass der Schuss ihm gegolten hatte – unglücklicherweise hatte seine Partnerin seinen Morgenmantel getragen. Es hatte sie das Leben gekostet, ihn seine Perspektive mit ihr und eine Menge Tränen. Seine einzige Hoffnung bestand jetzt nur noch darin, dass ein bezahlter Killer nicht mehr bereit war, das erhöhte Risiko eines erneuten Anschlages auf sich zu nehmen.
Die Psychologin, die ihn nach dem Mord betreut hatte, war eine Meisterin ihres Faches, es gab schnell Fortschritte. Aber er wollte nichts überstürzen, wollte sich Zeit nehmen und seine Trauer zulassen. Sie war so groß, dass er sich nicht einmal in seine Therapeutin verliebte, die Bindung an seine tote Partnerin war zu stark. So war er eben: Wenn er sich für etwas entschieden hatte, engagierte er sich total, ließ sich mit Haut und Haaren darauf ein. Trotzdem hatte die Übertragung funktioniert, ihr differenziertes Verständnis und ihre vorsichtige Empathie taten ihre Wirkung.
Die lähmende Leere hatte er mit Büchern über diesen Fluss gefüllt, über seine Geologie und seine Symbolik, über Flößerei, über Goldwaschen.
Jetzt langweilten ihn die Behandlungstermine immer öfter, wusste er manchmal gar nicht mehr, worüber er reden sollte. Deshalb hatte er die Arbeit mit ihr beendet und sich eine Auszeit genommen, wollte einfach wieder einmal einen anderen Teil der Welt erleben. Allerdings keine weißen Sandstrände auf den Seychellen oder den lange ersehnten Bootsführerschein – das berührte ihn in diesen Tagen nicht wirklich. Tief im Innern gab es etwas, eine Sehnsucht, die er mit sich herumtrug seit seinen Kindheitstagen, die er aber nicht benennen konnte. Dieser Sehnsucht wollte er nachgehen und es interessierte ihn nicht, wie andere das sahen. Einen Sommer auf einer Alm hätte er sich gut vorstellen können, aber so viel Zeit hatte er nicht. Oder mit einem Wanderschäfer durch die Gegend zu ziehen und an Ostern den Mutterschafen bei der Geburt ihrer Lämmer zu helfen. Dafür war es aber schon zu spät, Ostern war vorbei.
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