"Es war das Wochenende nach der Basler Fasnacht. Am Mittwoch davor hatte sie einen ihrer berüchtigten Landgänge unternommen, sich von einem Chauffeur mit Rolls Royce abholen lassen und war durch die rappelvollen Basler Keller gezogen – Schnitzelbänke hören. Die Atmosphäre dort ist in der Tat etwas Besonderes, die Leute sitzen auf den Theken, auf Treppen oder zu zweit auf einem Stuhl, freie Stehplätze gibt es keine mehr, Sitzplätze zweimal nicht. Aber verstanden hat sie wahrscheinlich nicht viel. Das spielt sich alles im Basler Dialekt ab und die meisten Glossen drehen sich um die Lokalpolitik – von beidem hat sie keine Ahnung. Als sie kurz nach Mitternacht zurückkam, war sie ohne Begleitung, hatte ziemlich Schlagseite und fiel über Bord. Wir kamen gerade angedampft und ich suchte über Funk einen freien Platz zum Löschen am nächsten Tag. Luuk warf ihr einen Rettungsring zu und zog sie heraus, er musste dazu nicht einmal ins Wasser. Mit der Einladung hat sie sich bedankt."
"Und Luuk, wie fand der das?"
"Er kam sich vor wie im falschen Film, bis sie anbot, ihm das Schiff zu zeigen. Sie waren eine volle Stunde verschollen und ich weiß nicht, ob er viel gesehen hat von dem Kahn."
Strickmann schaute überrascht, hob aber nur eine Augenbraue. Marit fuhr fort:
"Mir soll es recht sein, wenn eine attraktive Französin abfährt auf ihn. Vielleicht bringt ihn das ein bisschen auf andere Gedanken."
"Wovon soll es ihn denn ablenken?"
"Er fühlt sich isoliert auf dem Schiff, ihm fehlen immer noch seine Kumpel von früher. Und das schlägt ihm aufs Gemüt."
"Fährt er schon lange?"
"Seit wir uns kennen – 15 Jahre."
15 Jahre Sehnsucht – eine lange Zeit. Vielleicht hatte er schon früher gar nicht gewusst, wie viel ihm seine Jugendfreunde bedeuteten: Sie waren selbstverständlich da und wann immer er einen von ihnen sehen wollte, konnte er das ohne großen Aufwand haben. Aber auch das würde nicht bleiben, wie es einmal gewesen war: Manche zogen weg, manche hatten kleine Kinder und keine Zeit mehr, jedes zweite Wochenende ins Stadion zu gehen und hinterher um die Häuser zu ziehen. War ihm das nicht bewusst? Oder sehnte er sich am Ende nach früher, nach seiner Jugend? Niemand würde ihm diese Zeit wieder zurückbringen können und je schneller er das begriff, desto besser für ihn. Strickmann erinnerte sich: Auch er kannte solche Phasen in seinem Leben.
Marit machte weiter kein Aufheben von der Situation. Vor dem Abendessen habe die Gastgeberin ihr unfreiwilliges Bad im Fluss zum Besten gegeben, die ganze Gesellschaft habe das Paar vom bateau hochleben lassen – das war's. Über ihre Sprachkenntnisse verlor Marit kein Wort.
Auf dem Radarschirm kam jetzt eine Gabelung ins Bild, sie waren schon am Beginn des Grand Canal d'Alsace . Strickmann hatte davon nur gehört, war selbst aber noch nie dort gewesen. Natürlich benutzt niemand diesen ellenlangen offiziellen Namen – die Anlieger sprechen vom Kanal und jeder weiß, was gemeint ist. 1970 sei der Bau fertig geworden, seitdem laufe es mit dem Warentransport wie geschmiert. Der rechte Arm der Verzweigung war der Beginn des Altrheins, auf dem schon nach wenigen Metern das Stauwehr Märkt zu sehen war.
Marit veränderte die Verstärkung des Radars:
"Weißt du zufällig, was das hier ist, diese Struktur?"
Sie deutete auf ein paar senkrecht verbundene Verstrebungen im Altrheinarm.
"Das sind Trägerteile des alten Kraftwerks in Märkt. Im 2. Weltkrieg ist es von den Briten bombardiert worden. Ein paar große Eisenteile liegen heute noch im Flussbett und ragen wie Gerippe aus dem Wasser."
"Das konnte mir noch niemand sagen. Woher weißt du das?"
"Das wissen die Alten hier. Ich war damals natürlich nicht dabei."
Da wurde Strickmann bewusst, dass sie die neue Fußgängerbrücke schon längst passiert hatten. Als sie unter ihr durchkamen, hatte er nicht auf sie geachtet, war zu sehr konzentriert auf Marits Erzählung. Dabei war er an Bord gekommen, um die Welt vom Wasser aus zu sehen – und nun ließ er sich so leicht ablenken.
Marits Mann kam mit einem Tablett aus der Küche, brachte die Kaffeeutensilien. Noch bevor er sie abstellte, zog er ein Paar Hausschuhe an, das bei der Garderobe stand. Erst da fiel Strickmann auf, dass auch Marit besondere Schlappen trug. Er zog seine Schuhe auch aus, stellte sie vor die Tür. An der Garderobe bemerkte er mehrere Schwimmwesten.
Luuk machte Marit eine Tasse mit Milch und Zucker, stellte sie in Reichweite ihres Steuerstuhls. Dann schob er die Thermoskanne zu Strickmann hinüber und setzte sich zu ihm an den Tisch:
"Bei uns gibt es zwischen drei und vier Uhr Kaffee, wenn es das Schiff erlaubt. Heute ist es ein bisschen später. Wie trinkst du deinen Kaffee?"
"Ist das frische Milch?"
"Yep, fast so gut wie in Holland."
"Bitte auch mit Milch."
Und zu Marit gewandt:
"Ist Vali informiert?"
Marit nickte, Vali würde gleich kommen. Für sich selbst übergoss Luuk ein paar grüne Blätter mit heißem Wasser und wappnete sich mit Geduld:
"Marokkanischer Minztee mit viel Zucker – das Größte."
"Gehst du nach deinem Tee schlafen?"
"Ich glaube schon."
"Versuchst du es mal ohne Schlafmittel? Vielleicht habe ich Lust, dich zu wecken, wenn ich festgemacht habe."
"Das sind ja hervorragende Aussichten. Aber ich möchte eigentlich, dass du mich auf jeden Fall weckst, kurz vor dem Hafen in Kehl."
"Warum das denn?"
"Ich habe das Ding eingefädelt, also möchte ich auch dabei sein, wenn genäht wird."
Strickmann verstand nicht, wovon die Rede war, und keiner von beiden machte irgendwelche Anstalten, ihn aufzuklären. Er getraute sich nicht zu fragen, bediente sich aus der Thermoskanne mit Kaffee, goss viel Milch dazu und hing seinen Gedanken nach.
Nun kam Vali, der dritte Mann der Besatzung. Strickmann hatte ihn überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen. Vali betrat das Steuerhaus völlig geräuschlos. Er hatte strahlend blaue Augen und ein offenes Gesicht. Leider war er nicht besonders gesprächig, sein deutscher Wortschatz war ziemlich beschränkt. Er war Rumäne und wenn er nicht auf dem Schiff war, lebte er bei Teneswar in einer 20.000-Einwohner-Stadt. Sein Freund Zenon habe ihm vom Westen vorgeschwärmt, da sei er mitgegangen. Er habe Hypotheken auf seinem Haus. – Wo denn dieser Zenon arbeite? – Auch hier auf der Flamingo , zurzeit sei er allerdings krank. Das mache die Situation etwas einsam für ihn, er habe niemanden, mit dem er sich auf Rumänisch unterhalten könne.
Nach dem Kaffee ging Strickmann mit ihm nach vorne in den Bug und ließ sich seine Arbeit erklären: Im Sommer arbeitete er im Freien, war zuständig für die Reinigungsarbeiten und strich alle Metallteile. Jetzt war er gerade mit der Reling an Backbord beschäftigt. Im Winter war er unter Deck, renovierte einzelne Kammern. – Und die Arbeitsbedingungen? – Er würde in Rumänien 300 Euro im Monat verdienen, hier 1.200 netto. Das sei das Vierfache. Damit könne er die Hypotheken auf seinem Haus abbezahlen. Außerdem sei er nach zwei Wochen auf dem Schiff zwei Wochen zu Hause und bekomme die An- und Abreise mit dem Bus bezahlt. Alles in allem sei das nicht schlecht. Nur die Filipinos machten ihm Angst. – Welche Filipinos? – Es arbeiteten immer mehr Filipinos in Europa und die bekämen nur Lohn, wenn sie auch auf dem Schiff seien. Die würden damit für das halbe Geld arbeiten und auch keine Buskosten verursachen. Dazu machte er eine sorgenvolle Miene: Hoffentlich könne er noch recht lange bei Luuk und Marit bleiben.
Das Gespräch war langwierig und mühsam. Sie verständigten sich hauptsächlich durch Gesten und Stichwörter, Strickmann musste viel umschreiben. Aber ab und zu ging ein Lächeln über Valis Gesicht, er fühlte sich verstanden und nickte heftig.
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