In der Nachbarschaft, wo das Gras höher steht und das Unterholz dichter, haben Liebespärchen und FKK-Anhänger ihre Plätze, flussaufwärts die Heteros, flussabwärts nach einer Kiesbank die Homos und ab und zu ragt irgendwo ein sich auf und ab bewegender Kopf über das Gras hinaus. Nicht alle wissen um diese Gebietsaufteilung, aber niemand fühlt sich gestört. Manchmal steigt eine Gruppe Wanderer für einen Badetag aus dem Schwarzwald herunter oder ein paar europabegeisterte Japaner unterbrechen ihre Tour entlang des Rheins und bauen ein Zelt auf. Sie wollen es sich ein paar Tage lang gut gehen lassen, bevor sie ihren geplanten Aufstieg in die Alpen in Angriff nehmen. Wenn dann abends die Gitarren oder Saxophone ausgepackt werden und der französische Rotwein um das Feuer kreist, werden sie eingeladen und sind völlig erstaunt: Was sie gerade erleben entspricht so gar nicht ihrem bisherigen Bild von Sauerkraut und Lederhosen in Deutschland.
Nach wenigen Kilometern erscheint die erste von zehn Schleusen auf dem Weg zum Meer. Aus Strickmanns Tagebuch geht deutlich hervor, dass sie für ihn einen Rest von Magie bedeutete in einer technisch durchrationalisierten Welt:
"Die Schleuse Kembs, meine erste. Bei unserer Ankunft ist sie offen, wir können sofort einfahren. Der Schleusenwärter schließt das dicke Tor und eigentlich könnte es gleich losgehen. Im Prinzip ist es nichts Dramatisches: Das Wasser wird abgelassen, wir fallen und wenn wir das untere Flussniveau erreicht haben, fahren wir weiter. Aber irgendwie geschieht nichts und ich weiß nicht, worauf wir warten, schaue immer wieder nach dem Poller, den ich mir als Fixpunkt für unseren Abstieg gewählt habe. Als ich mich nach oben orientieren will, erschrecke ich: Die Wände der Schleuse ragen schon über zwei Meter in die Luft und ich fühle mich eingesperrt. Das Wasser sinkt weiter und die Betonwände der Schleuse wachsen in den Himmel, langsam, unaufhaltsam. Mein Fixpunkt ist nicht fix. Es ist ein Schwimmpoller, der an einer vertikalen Stange entlangläuft und mit dem Wasser fällt.
Die Wände der Schleusenkammer sind mit Moos und Flechten überzogen, die Eisenleitern, die im Wasser enden, verrostet und glitschig. Es sieht eklig aus und es wird düster. Ich fühle mich wie in einer Schlucht im Gebirge, die senkrecht abfallenden Wände erdrücken mich fast. Das Wasser ist dunkel, drohend. Marit bemerkt meine Beklemmung:
'Keine Angst, wir haben es gleich geschafft. Ist es dein erstes Mal?'
Ich nicke.
'Das geht allen so. Und manche Schleusen haben sogar noch einen größeren Höhenunterschied. Aber bis es soweit ist, hast du dich daran gewöhnt.'
Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen will. Die Sonne kann ich jedenfalls nicht mehr sehen, dazu ist mein Blickfeld zu eng geworden. Ich bin froh, als es nicht mehr weiter abwärts geht, aber vorwärts geht es leider auch nicht. Wieder eine Erklärung: In der Binnenschifffahrt gehe alles langsam und es würde immer eines nach dem anderen erledigt, weil selbst der kleinste Fehler verheerende Folgen haben könne. Der Schleusenwärter müsse noch etwas mit einem Tanker klären, der zu Tal vor der Schleuse warte. Auch wenn es kein Problem wäre, auf einen Knopf zu drücken und das Hubtor in Bewegung zu setzen, zuerst werde die Kommunikation mit dem anderen Schiff beendet. Das sei auch richtig so, er müsse mit dem Kopf bei der Sache sein, um im Fall der Fälle schnell reagieren zu können. Obwohl es meine Kapitänin eilig hat, zeigt sie keinerlei Anzeichen von Ungeduld. Sie findet dieses Warten richtig und deshalb unvermeidlich.
Irgendwann gehen über Funk ein paar unverständliche Wortfetzen hin und her. Das Tor vor dem Bug beginnt sich zu heben und gibt ein glänzendes Band frei, das immer schmaler wird und am Horizont in den Himmel fließt.
'Mach los!'
Die Videokamera im Bug zeigt, wie Luuk das Tau vom Poller nimmt. Über Funk kommt die Bestätigung:
'Bug ist frei.'
Marit rennt nach draußen und löst das Tau am Heck. Ich fühle mich verlassen im Steuerhaus und habe ein seltsames Gefühl. Wenn jetzt eine unerwartete Strömung aufkäme, wüsste ich nicht, was zu tun wäre. Hilflosigkeit macht sich breit. Aber Marit ist sofort zurück und lächelt mir beruhigend zu. Ich habe den Eindruck, sie kann in meinem Kopf lesen wie in einem offenen Buch. Dann gibt sie vorsichtig Gas. Noch ein Dankeschön an den Schleusenwärter und es geht weiter. Mir ist, wie wenn uns diese Gebirgsschlucht als unverdaulich ausspuckte, notgedrungen wieder freigeben müsste in eine Welt, in der es klares Wasser und grüne Bäume unter einem blauen Himmel gibt, mit weißen Möwen und Schwänen, beschienen vom hellen Licht der Sonne. Hier ist nichts mehr zu spüren von der Enge der Schleuse: Die Grenze ist erst der Horizont und der wandert mit uns in die Zukunft. Es ist ein gutes Gefühl, meine Brust entkrampft sich.
Tief im Wasser liegende Frachter kämpfen sich flussaufwärts, jeder grüßt und wird gegrüßt. Marit und Luuk befahren diese Strecke seit über zehn Jahren, kennen viele ihrer Kollegen persönlich. Sie wissen, dass einer eine schwerkranke Tochter hat zu Hause und den Tag herbeisehnt, an dem er von Bord gehen kann. In der Klinik wird die Zahl der Patienten mit ihrer Krankheit immer geringer. Sein ganzer Lebenswille konzentriert sich in dem Wunsch, die Kleine noch einmal lebend anzutreffen. Ein anderer kämpft mit dem Alkohol, weil seine Frau zu Hause die Einsamkeit nicht mehr ertragen hat. Vor ein paar Wochen fand er einen Zettel auf dem Küchentisch: Es war zu viel . Wenn er jetzt den Kampf gegen den Alkohol verliert, ist er auch noch seine Arbeit los. Viele auf dem Fluss wissen darum und lösen einander am Funkgerät ab, reichen ihn weiter wie einen Stab beim Staffellauf: Er soll nie das Gefühl haben, mit seinen Problemen allein gelassen zu sein. Und beim nächsten Landgang hat er ein Date, das sie für ihn organisiert haben. Selbst wenn nichts daraus werden sollte, schon die Aussicht darauf hilft ihm, gut in seinen Zielhafen zu kommen.
Aber letztlich seien diese Kontakte unter Schiffern unverbindlich, ähnlich denen mit flüchtigen Bekannten bei einer zufälligen Begegnung in der Stadt. Sobald jemand nicht mehr an Bord sei, verschwänden alle seine persönlichen Bezüge und das ganze Netz breche zusammen. Umgekehrt sei es nicht anders. Die Freunde an Land würden immer weniger, es dauere nur etwas länger. Dies, so erklärt mir Marit, sei der Grund für die Nachwuchsprobleme in der Binnenschifffahrt: Viele junge Leute sind nicht bereit, ein Berufsleben lang auf einen Großteil ihrer Kontakte zu verzichten.
An diesem Flussabschnitt gibt es immer wieder Leute, die mit ihrem PKW bis direkt ans Wasser fahren, eine Decke auspacken und sich einen gemütlichen Nachmittag machen mit etwas zu trinken, einem Radio oder einem Buch. Die mit Erfahrung haben außerdem noch einen Sonnenschirm dabei, einen Picknickkorb und einen Grill. Seltsamerweise ist niemand im Wasser.
Wir nähern uns der Stelle, wo am linken Ufer der Rhein-Rhone-Kanal abzweigt, gut erkennbar an seinen pinkfarbenen Eisenverkleidungen und den durch eine Insel getrennten Fahrrinnen. Im Fernglas sehe ich am Ufer schon von Weitem eines dieser Hausboote, auf denen die Franzosen so gerne ihren Urlaub verbringen. An Bord sind nur zwei Männer zu sehen. Einer hat eine Bierflasche vor sich auf dem Tisch stehen, der andere kurbelt wie wild, um eine Angel einzuholen. Wir fahren näher heran und ich frage, ob sie die Rhone hinunterfahren. Da entspannt sich der Angler, befestigt einen neuen Köder am Haken und wirft seinen Schwimmer flussaufwärts, exakt dorthin, wo an einer ruhigen Stelle fast keine Strömung zu sehen ist. Für die Antwort ist der andere zuständig: Ja, ja, sie wollten nach Avignon, danach würden sie weitersehen. Und gute Fahrt auch.
'Dieser Kanal ist aber nicht sehr breit.'
'Das stimmt. Mit der Flamingo können wir ihn nicht befahren. Deswegen sind die péniches so klein. Der springende Punkt ist die Breite.'
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