„Sieh dir das an. Es wirkt, wenn man es mit eigenen Augen sieht, viel beeindruckender als auf Fotos!“, rief die Frau überwältigt aus.
Nur von der Luft aus konnte man die gewaltigen Anstrengungen, welche die Inkas auf sich genommen hatten, um diese Stadt auf den Rücken des Berges zu erbauen, richtig erfassen. Ein Steinhaus neben dem anderen, von terrassenförmig angelegten Feldern umgeben, auf denen heute anstatt Getreide nur noch Gras wuchs. Alles überragt vom Gipfel des Huayna Picchu.
„Grandios nicht wahr?“, lächelte der Mann sie an und starrte selber wieder fasziniert nach unten auf die Stadt am Berg.
Nach einer Umrundung der Ausgrabungsstätte landete der Helikopter schließlich unten im Tal, in Aquas Calientes. Ein kleiner Ort mitten im Nirgendwo, den es gar nicht geben würde, wenn da nicht Hiram Bingham im Jahre 1911 die inzwischen weltberühmten Ruinen der Inkastadt Machu Picchu, oben am Bergrücken wiederentdeckt hätte.
Nachdem die Rotorblätter gestoppt hatten, öffneten sich die Türen des Helikopters, ein Mann lief darauf zu und half der hübschen blonden Frau Anfang Vierzig heraus. Gleich hinter ihr kletterte der etwa gleichaltriger großgewachsene Mann südländischen Typs heraus.
Dylan und Laura Huntley waren aus ihrer Heimat England angereist um Dylans neuestes Buch ‚Der letzte Krieger‘ vorzustellen. Dylan Huntley, ein berühmter Autor, der hauptsächlich Abenteuerromane und Kriminalgeschichten herausbrachte, hatte einen packenden Thriller geschrieben, in dem die Ruinen von Machu Picchu eine Schlüsselrolle spielten. Sein Verleger fand es eine geniale Idee, die Präsentation direkt am Ort des Geschehens stattfinden zu lassen und deshalb nahm das Ehepaar die weite Anreise aus England in Kauf. Dylan war zuvor schon gemeinsam mit dem peruanischen Archäologen Luis Martinez hier gewesen, um sich alles vor Ort ganz genau anzusehen, um die Atmosphäre der Stadt aufzunehmen und besser beschreiben zu können. Er fand den Ort nach wie vor faszinierend. Keiner wusste genau, warum die Inkas diese Stätte verlassen hatten oder welchem Zweck sie früher einmal diente. Diese Fragen würde vermutlich auch nie beantwortet werden. Dylan mochte das Rätselhafte und er liebte alte Gemäuer und so fühlte er sich sehr zu den Ruinen hingezogen. Die alten Steine wollten eine Geschichte erzählen, die man nicht hören konnte. Wie stumme Zeitzeugen standen sie da. Unverrückbar mit dem Hügel verbunden, überdauerten sie die Jahrhunderte, während die Menschen darin schon längst verschwunden waren.
Der Mann, der Laura aus dem Helikopter geholfen hatte, begrüßte die beiden herzlich und stellte sich als Tomas Andigo vor. Er war verantwortlich für die Organisation der Buchpräsentation und Lesung vor Ort.
Tomas Andigo schob das Ehepaar in Richtung eines roten Jeeps, der am Rand des Landeplatzes wartete und meinte: „Bitte, der Wagen wartet schon. Wir werden Sie gleich nach oben zu den Ruinen fahren. Die Lesung kann dann sofort starten.“
„Sehr gut“, erwiderte Dylan. „Ich freue mich schon darauf, Machu Picchu wiederzusehen. Die Stadt ist immer wieder ein tolles Erlebnis.“
Er rieb sich innerlich, vor Aufregung, die Hände und konnte es kaum erwarten nach oben in die Ruinenstadt zu fahren.
Andigo wandte sich zu Laura und fragte sie: „Waren sie auch schon mal hier Mrs. Huntley?“
Laura schüttelte den Kopf: „Nein leider nicht. Aber ich bin schon sehr gespannt.“
Sie lachte und deutete mit dem Kopf auf ihren Mann: „Dylan hat mir immer wieder begeistert davon vorgeschwärmt.“
Er legte den Arm um seine Frau und lächelte sie an: „Du wirst sehen, ich habe dir nicht zu viel versprochen. Die Ruinen sind einfach eine Klasse für sich.“
Er brannte darauf, die Ruinen nach der Lesung mit Laura zusammen durchwandern zu können.
Sie stiegen in den Jeep und fuhren auf der acht Kilometer langen Serpentinenstrecke zu den Ruinen hinauf. Eine Windung nach der anderen nahmen sie über die geschotterte Straße nach oben. Unter ihnen wurde die Schlucht immer tiefer. Höher und höher klettere der Jeep den Berg hinauf. Dylan vermied es direkt in den Abgrund neben der Straße zusehen, er fühlte sich mit der Höhe nicht so recht wohl.
Ein paar Wanderer, die über Steinstufen links von ihnen den Berg hinaufstiegen, kreuzten ihren Weg. Sie fuhren durch einen kurzen grünen Tunnel, den über die Straße zusammengewachsene Bäume gebildet hatten. Die Aussicht auf die umliegenden Berge war atemberaubend schön und unter ihnen im Tal floss gemächlich ein schmaler Strom mit schlammig braunem Wasser dahin. Sie kamen immer höher und Dylan wartete schon sehnsüchtig auf das Erscheinen der Ruinenstadt.
„Das zieht sich ganz schön nach oben“, stellte auch Laura fest.
„Ja aber das steigert die Vorfreude auf die Stadt“, grinste Dylan.
Endlich kam die letzte Kehre und nach einer längeren geraden Strecke kamen sie schließlich zum Eingang der Stadt. Am Parkplatz standen schon einige Busse, aus denen Menschen kletterten und in Richtung Stadt strömten. Dylan seufzte innerlich und breitete sich gedanklich schon auf die Fragen der Reporter vor.
Andigo hielt den Wagen an und Dylan stieg zuerst aus dem Auto. Die Journalisten, die sich am Parkplatz zusammengerottet hatten, stürzten sich, als sie ihn erkannten, sofort auf ihn.
Er schmunzelte und mit den Worten: „Das letzte Mal als ich hier war, war hier nicht so ein Trubel“, stellte er sich den Reportern.
„Mr. Huntley, haben sie schon mit dem nächsten Buch angefangen?“, rief ihm einer der Reporter zu.
„Noch nicht“, antwortete Dylan und versuchte sich, Laura hinter sich herziehend, durch die Journalisten hindurch zu schlängeln.
Die Reporter stellten Frage um Frage und Dylan bemühte sich die meisten davon zu beantworten.
Tomas Andigo half ihnen, durch das Gedränge in Richtung Stadt weiterzukommen: „Bitte treten Sie doch zur Seite. Er wird nach der Lesung gerne alle Ihre Fragen beantworten, aber jetzt lassen Sie ihn bitte durch.“
Mit diesen Worten schob er beherzt einige der Reporter aus dem Weg und lotse das Ehepaar an ihnen vorbei. Dylan sah ihn dankbar an und schritt beherzt aus, um so schnell wie möglich weiter zu kommen.
Sie kamen auf einen schmalen Pfad, der entlang der Terrassenfelder angelegt war. Nach oben und unten erstreckten sich die, mit Gras begrünten, Terrassen. Der Weg endete an einer Steinmauer. Nach links führte eine Steintreppe nach oben zu weiteren Terrassen mit alten, halb zerfallenen Häusern und rechts ging es nach unten ins Zentrum der Ruinenstadt.
Dylan schob Laura vor sich, damit die nachdrängenden Journalisten sie nicht zum Stolpern brachten. Vorsichtig traten sie über die unebene Steintreppe nach unten.
Immer wieder Fragen beantwortend, ging er langsam auf das große Zelt zu, welches extra für die Buchpräsentation im Zentrum der Stadt, am ‚Plaza Principial‘, aufgebaut worden war. Dylan musste einen Moment innehalten und die Aussicht genießen. Hinter dem Zelt tat sich der zweitausendsiebenhundertundeinen Meter hohe Huayna Picchu auf und seitlich davor lagen die geheimnisvollen Ruinen der Inka-Stadt Machu Picchu.
„Das beste Ambiente für eine Buchpräsentation, die man sich nur wünschen kann“, stellte Dylan fest.
Er liebte diesen geheimnisumwobenen Ort, an dem er Monate zuvor intensive Recherchen durchgeführt hatte.
Andigo nickte: „Eigentlich wollten wir die Lesung für den Abend ansetzen, um mit beleuchteten Ruinen noch eine bessere Stimmung zu erzeugen, aber leider konnten wir dafür die Genehmigung nicht bekommen“, seufzte er enttäuscht.
„Es ist auch so faszinierend“, tröstete Dylan ihn.
Ein weiterer Mann hatte sich zu ihnen gesellt und Andigo stellte ihn als Manuel Feltano, einem jungen Historiker vor, der die Anlage für seine Doktorarbeit erforschte.
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