Sie ging durch die Stallgasse hinaus und über den Hof zu dem Gebäude, in dem sie gestern gegessen hatten. Abgestandene, miefige Luft schlug ihr entgegen, als sie die klapprige Tür öffnete.
„Tür zu, es zieht!“ schrie es ihr aus unbekannter Quelle entgegen. Hannah schloss schnell die Tür hinter sich. Maria, eine der Praktikantinnen oder auch Reitlehrerinnen, so ganz konnte Hannah ihre Funktion noch nicht einordnen, schaute mit einem Handtuchturban auf dem Kopf aus einem der Zimmer, die von dem schmalen Flur hinter dem Aufenthaltsraum abgingen.
„Geh mal rüber ins andere Haus, der Kurs geht heute ein bisschen später los, gestern Abend wurde es ein bisschen länger bei uns!“ Sie lachte und verschwand wieder im Zimmer. Hannah bedankte sich für die Information und wechselte von einer Baracke in die nächste.
Auch hier roch es fürchterlich nach Schlaf, nassem Holz und missgelaunten Menschen, welche unübersehbar den Flur bevölkerten, in vielerlei Zuständen. Manche waren noch im Schlafanzug, andere schon angezogen und einige standen an, um sich im Flur die Haare zu föhnen.
„Guten Morgen“, sagte Nora zu Hannah.
„Oh, hallo, Guten Morgen! Warum steht ihr hier an? Habt ihr hier nur eine Steckdose?“
„Nee, aber nur einen Steckdosenadapter.“
Hannah ließ das unkommentiert. „Wann geht’s denn heute los?“
„So in einer Stunde. Wir haben es gestern etwas übertrieben. Wir wollten im Ort was essen, es hatte aber schon alles zu, außer der Burgerbude, und da wollten wir nicht hin. Also haben wir drüben im Aufenthaltsraum total urig Bohnen aufgewärmt und dann bis um drei was getrunken und alte Videos geguckt von Pferdeveranstaltungen und Cross-Country-Turnieren. Echt cool! Das will ich auch machen! Und, stell dir vor, wir machen beim Turnier mit! In einer Woche oder so. Ich hab uns direkt mal angemeldet. Ich krieg dann noch fünfzig Euro von dir. Und hundert fürs Leihpferd.“
Hannah brauchte einen Moment, um das soeben Gehörte zu erfassen. „Moment mal. Du hast mich, ohne mich zu fragen, einfach mal so zu einem Turnier angemeldet, das hundertfünfzig Euro extra kostet?“
Nora sah Hannah an. „Ja!“ sagte sie und ihre Augen funkelten begeistert.
„Warum? Hättest du nicht vorher wenigstens fragen können?“
„Ach komm. Du fandst das doch gestern auch total toll!“
„Wir haben noch überhaupt nicht darüber geredet, wie ich das fand. Falls es dir entgangen sein sollte, ich bin nach dem Unfall zurück zum Stall, das Pferd von Tina zurückbringen. Wie geht es ihr eigentlich?“
Nun brauchte Nora einige Momente, um nachzudenken. „Ach so. Sorry, das hab ich gar nicht so mitbekommen. Tina geht’s wohl ganz gut, aber es ist was mit ihrem Knie.“
Soweit nichts Neues also.
„Du kannst ja Jane fragen, ob du die Anmeldung zum Turnier wieder zurückziehen kannst“, schob Nora hinterher. „Ach, und, noch was, das wird dir gefallen!“
Hannah zweifelte langsam an Noras Verstand, war aber auch gleichzeitig gespannt, welch Absurdität nun kommen würde. Das war Noras Spezialität: Spontaneität, kombiniert mit einer naiven Begeisterung, eine manchmal recht explosive und verhängnisvolle Mischung. Hannah erinnerte sich wieder daran, warum sie den Kontakt zu Nora in den letzten Jahren eingeschränkt hatte und froh war, wenn sie sie mal nicht im Stall traf, in dem Nora seit einiger Zeit nun Springstunden bei Hannahs Freund Konstantin nahm.
„Die haben hier ja nicht nur die Schulpferde für die Reitkurse, sondern auch Verkaufspferde! Auch Dressurpferde! Für dich! Da hab ich Jane gleich gesagt, wir würden gerne welche angucken und ausprobieren und sie war total begeistert. Vielleicht finden wir hier Pferde! Oh, ich muss los, ich bin dran mit Haare föhnen! Treffen wir uns doch nachher in der Reithalle!“ Mit diesen Worten widmete sich Nora ihren Haaren. Noras blonde Locken brauchten weit mehr Aufmerksamkeit als Hannahs schulterlange Pferdeschwanzfrisur. Da Nora auch noch nicht geschminkt war, war es sinnlos, hier zu warten und so ging Hannah wieder rüber zur Reithalle.
Sie schaute in die Box von Geronimo, der auch gleich nach vorne kam und seine Nase an die Gitterstäbe drückte.
„Na, du Legende? Wie geht’s?“ fragte Hannah ihn leise und streichelte ihn so gut es durch das Gitter ging.
Jane betrat schnellen Schrittes den Stall und machte eine Vollbremsung, als sie Hannah sah. „Ah, hallo, ich hab noch was für dich, kommst du bitte mal mit ins Büro?“ Ohne eine Antwort abzuwarten lief sie zügig die Stallgasse entlang. Hannah folgte ihr.
„So, warte, hier hab ich‘s irgendwo ...“, murmelte sie und fand die gesuchten Papiere in einem der eingestaubten Ablagefächer auf dem überfüllten, kleinen Schreibtisch.
„Ähm, Jane, Nora war da etwas voreilig. Sie hat mich gar nicht gefragt, ob ich bei dem Turnier überhaupt mitmachen will. Ich wusste davon nichts. Der Urlaub ist teuer genug für mich, ich möchte jetzt nicht noch mal hundertfünfzig Euro zusätzlich ausgeben.“
Jane sah mit erhobenen Augenbrauen zu Hannah und ließ das Papier sinken, das sie in der Hand hielt. „Ach so. Das ... ist aber jetzt zu spät. Ihr seid beide schon gemeldet und Nora hat auch schon für dich bezahlt. Da war gestern Abend Meldeschluss. Sorry, klär das bitte mit ihr. Hier, das sind deine Unterlagen.“
Jane gab Hannah einige dilettantisch zusammengeheftete Papiere. Sie blätterte sie durch. Es waren der Anmeldebogen, eine Seite mit Kleingedrucktem und ein schematischer Plan der Geländestrecke.
„Komm mit, ich zeig dir dein Pferd für die Prüfung. Das reitest du dann ab sofort auch in den Reitstunden. Wir müssen noch ein bisschen üben.“ Jane lächelte, verließ das Büro und steuerte zielgerichtet auf eine Pferdebox zu, Hannah folgte.
„Das hier ist Gloria. Sie ist zwar nicht so groß, springt aber super. Sie ist trächtig, aber jetzt ist es noch ok, sie zu reiten. Die macht das mit links, auch wenn du nicht so routiniert bist.“
Hannah schaute in die Box. Dort drin stand das kleine, dicke Pony, naja gut, sagen wir Kleinpferd, das Nora hätte reiten sollen. Gloria kam nach vorne zum Gitter. Die dunkelbraune Stute versuchte, mit den Lippen Hannahs Finger zu schnappen.
„Jane, ich weiß nicht.“
„Du machst das schon. Deine Freundin will unbedingt wieder Leonardo reiten. Sie hätte lieber mal Gloria behalten.“ Jane lachte. „Sie überschätzt sich ziemlich, kann das sein?“
„Naja, zumindest ist sie plötzlich Feuer und Flamme für‘s Geländespringen. Sie springt zu Hause auch, aber das hier ist doch was anderes. Wir springen eher in der Halle oder auf dem Platz.“
Jane lachte. „Wir werden sehen. Sie sagte auch, ihr wollt eventuell mal bei unseren Verkaufspferden schauen?“
„Gucken kann man ja mal, klar.“
„Schön.“
Die ersten Reitschüler kamen nach und nach in den Stall und als alle da waren, verkündete Jane das heutige Programm: Zunächst eine Aufwärmrunde in der Reithalle und danach durfte jeder eine Runde auf der Geländestrecke reiten, zum besseren Kennenlernen der Strecke und des Pferdes. Danach konnten noch Einzelstunden genommen werden, gegen Aufpreis natürlich. Soviel zum Plan.
Die Praxis sah anders aus, aber zumindest war bis zur Mittagspause jeder ungefähr eine Stunde lang in der Reithalle unterwegs gewesen. Diesmal gab es keine Totalausfälle, aber trotzdem verliefen die Reitstunden weit turbulenter, als Hannah sich das gewünscht hätte. Drei Leute fielen runter, eine davon über einem Sprung, verletzte sich aber glücklicherweise nicht. Nora und Leonardo kamen relativ gut zurecht, bis es dem Wallach zu langweilig wurde und er wieder mit seinen Galopprunden in der Halle anfing. Hannah hatte zu diesem Zeitpunkt gerade die Halle mitsamt der sehr braven Gloria verlassen und überließ Nora ihrem Schicksal.
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