Sobald der Weg gerade verlief, trabte Colin nach kurzer Ankündigung an und sie ritten ein ganzes Stück weit parallel zum Strand. Polly war flotter unterwegs, als Hannah vermutet hatte. Sie fand es erfrischend, nicht ständig an dem Pferd herumzerren zu müssen und ließ Polly die Zügel lang.
„Wir gehen jetzt hier rüber zum Strand!“ rief Colin gegen das Meeresrauschen an. „Alles klar bei euch?“ Er schaute zuerst zu Polly und erst dann zu ihrer Reiterin.
„Ja, alles klar“, rief Hannah zurück und nahm dann doch die Zügel etwas kürzer. Jetzt fiel ihr auch auf, was an Colin anders war. Der Bart war weitgehend abrasiert und nur noch um den Mund herum vorhanden, was in Hannahs Augen um Längen besser aussah als vorher.
„Was?“ fragte er.
„Dein Bart ist ab!“ antwortete Hannah, während Polly sich ihren Weg zwischen einigen großen Steinen hindurch zum fast steinfreien Sandstrand suchte.
Er grinste. „Ja, war mal Zeit!“
Sie ritten nebeneinander an dem breiten Strand entlang, nur wenige Meter von der Brandung entfernt.
„Das ist echt toll hier!“ rief Hannah und sie meinte es auch so. Die Atmosphäre hier am Strand, das Meeresrauschen und der Geruch von Salzwasser in der Luft hatte etwas tief Bewegendes. Auch den Pferden schien es zu gefallen, die wurden nämlich beide etwas lebendiger.
„Wir traben jetzt ein Stück und dann lass sie einfach laufen!“ rief Colin, während er sein Pferd in einigen engen Kreisen lenkte und somit noch vom Losgaloppieren abhielt.
„Ok!“ konnte Hannah noch antworten, als Polly schon in einem mehr als ungemütlichen, hoppeligen Trab hinter Colins Pferd herrannte.
„Na, dann lauf“, sagte Hannah zu Polly und drückte die Beine ran. Die Stute wachte nun vollends auf und galoppierte los. Colin einzuholen war utopisch, dazu war er schon viel zu weit weg, aber Polly rannte, so schnell sie konnte, genau geradeaus. Hannah genoss es, sich beim Reiten auf nichts anderes konzentrieren zu müssen, als darauf, wie sie sich fühlte. Und sie fühlte sich großartig. Es war das erste Mal seit Monaten oder vielleicht sogar Jahren, dass sie wieder wirklichen Spaß am Reiten hatte.
Nach einer Weile ging Polly die Luft aus, sie wurde langsamer, fiel in einen schaukeligen Trab und danach wieder in den Schritt und Hannah klopfte ihr den Hals. Das kleine, dicke Pferd dampfte und war nassgeschwitzt. Polly schnaufte und bebte und schaute mit hocherhobenem Kopf um sich. Sie schüttelte sich und trottete weiter. Auch Hannah schaute sich um. Sie schob sich den Reithelm höher und wischte ihre nassen Haare zur Seite. Arrow stand mit hängender Zunge einige Meter weiter, freute sich, dass Hannah ihn gesehen hatte und sprintete wieder zurück zu Colin. Der wartete mit seinem Pferd ein gutes Stück weiter vorne an einer Düne.
„Und, wie war‘s?“ fragte Colin freundlich grinsend, als Hannah und Polly bei ihm ankamen, Polly immer noch schwer schnaufend.
„Super!“ antwortete Hannah wahrheitsgemäß.
Colin nickte. „Schön! Dann mal gemütlich zurück.“ Er lenkte sein Pferd auf einen Pfad, der durch einige mit langem Gras bewachsenen Sanddünen nach oben führte und Hannah und Polly folgten ihm. Fast hätte Hannah doch noch ihren Sturz des Tages erlebt, als Polly eine Vollbremsung hinlegte und sich den Kopf an ihrem Vorderbein rieb.
Der Pfad führte zurück auf den breiten Kiesweg, der sich an der Küste entlang zog. Sie trafen sogar unterwegs einige dick eingepackte Wanderer, die sicherlich auch froh waren, bald wieder ins Warme zu kommen.
„Macht ihr auch Ausritte für Touristen?“ fragte Hannah und trieb Polly etwas an, sodass sie neben Colins Pferd lief.
„Nein, noch nicht. Ist aber in Planung.“ Polly verlor wieder den Anschluss und reihte sich dicht hinter Colins Pferd ein und er musste nach hinten rufen. „Du hast ja vielleicht den Anbau am Haus gesehen. Wir haben jetzt noch zwei Zimmer mehr. Mit etwas Glück können wir also in der nächsten Saison vier oder auch fünf Zimmer vermieten und auch Ausritte anbieten.“
Da Polly noch langsamer und die Kommunikation dadurch schwieriger wurde, ritten sie hintereinander nach Hause.
„Hier, nimm die Decke“, sagte Colin und nahm Hannah Pollys Sattel ab. Hannahs und Colins Hände berührten sich dabei kurz, seine Finger waren genauso kalt wie ihre. Er lächelte.
„Woah ich bin froh, reinzukommen, so schön es hier draußen ist“, sagte Hannah.
„Vielleicht kriegen wir noch mal ein paar schöne Tage“, antwortete er und trug den Sattel und die zwei Zaumzeuge weg.
Nachdem die Pferde halbwegs trocken, gefüttert und wieder zurück auf den Paddock gebracht waren, blieb Colin auf dem Weg zurück zum Haus bei der Abzweigung zu seinem eigenen Haus stehen. „Mary ist heute nicht da, sie ist im Ort, Bridge spielen mit ihren Freundinnen“, sagte Colin.
„Ah, ok.“
„Geh ruhig schon mal rüber, ich komm in einer Stunde rüber und dann mache ich uns was zu essen.“
Hannah nickte und ging zum Haus zurück. Arrow konnte sich erst nicht entscheiden, mit wem er gehen sollte und folgte dann Hannah zum Haus.
„Gehst du mit mir, um zu gucken, ob ich mich alleine im Haus ordentlich benehme?“ fragte sie den Hund. Arrow stellte seine Ohren auf und schien zu lächeln.
„Du verstehst alles, hm?“ fragte sie ihn, als sie die Haustür aufschloss. Seine Knickohren hoben sich erneut an, sodass eins fast gerade nach oben stand, was sehr lustig aussah. Sie ließ ihn ins Haus, zog Schuhe und Jacke aus und stieg dann erst mal unter die warme Dusche. Das tat mehr als gut. Der Gedanke, dass sie wie Nora nun in einem zugigen Mehrbettzimmer sitzen und zum Duschen anstehen musste, verband Hannah eher mit schlimmen Jugendherbergserinnerungen und nicht mit der Vorstellung eines schönen Urlaubs. Schön war der Urlaub ab heute – der Strandgalopp hatte wirklich Spaß gemacht, aber der Reitkurs gefiel ihr immer noch nicht. Dafür wurde ihr Colin immer sympathischer.
Hannah nutzte die Gelegenheit und meldete sich zu Hause und bei ihrem Freund. Konstantin hatte wohl schon mehrfach mit Nora telefoniert wegen irgendwelcher Verkaufspferden. Hannah legte auf, nachdem Konstantin sie angeschrien hatte, weil sie sich weigerte, ihm heute Abend noch Videos und genau vorgegebene Bilder zu acht der vom Stall angebotenen Verkaufspferde zuzuschicken. Hannahs Kommentar, dass das ja Nora tun könne, wenn sie eh schon in täglichem Kontakt mit ihm stand, machte ihn noch wütender. Und Hannah würde sicherlich jetzt nicht erneut zum Stall und wieder zurück laufen.
Sie atmete durch und ließ sich die Laune nicht verderben. Konstantin war in letzter Zeit unausstehlich und aus der anfangs durchaus ausgewogen erscheinenden Partnerschaft war seit nun fast einem Jahr ein Wettbewerb geworden, der Hannah mehr als ermüdete. Konstantin war durch seine Erfolge als Springreiter und Reitlehrer derart arrogant geworden, dass er es in Hannahs Augen mit seinem Ehrgeiz übertrieb. Er hatte mittlerweile so viele Reitschüler und Berittpferde, dass er vor elf Uhr abends kaum nach Hause kam und an Hannah immer weniger Interesse zeigte, reiterlich und auch als Person. Anfangs hatte er sie weit mehr unterstützt und sie hatten auch außerhalb des Stalles viel unternommen, aber in letzter Zeit kümmerte er sich lieber um seine Karriere und seine Reitschülerinnen. Hannah stellte mit Erstaunen fest, dass ihr der Streit mit ihm gerade kaum wichtig war.
Sie ging in Hausschuhen runter ins Erdgeschoss. Sie kam sich ein wenig wie ein Eindringling vor, so alleine in dem fremden Haus. Aber ganz alleine war sie ja nicht.
Sie fand Arrow im Kaminzimmer. Sein Schwanz klopfte vor Freude auf sein Hundebett, als er sie sah. Der Raum war sehr gemütlich, und eindeutig nachträglich an das Haus angebaut, wahrscheinlich zusammen mit dem Esszimmer. Ein Panoramafenster bot einen wunderschönen Blick in den Garten. Die Wände des Raumes waren dunkelrot gestrichen und es gab mehrere Sessel und auch ein kleines Sofa, direkt am Fenster.
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