Als noch zwei Pferde fast miteinander kollidierten, einer Frau der Reithelm in den Matsch fiel und es immer stärker regnete, brach Jane die Reitstunde ab und die Truppe brachte die Pferde in den Stall zurück. Schlammkönigin Nora verschwand fluchend in Richtung Dusche und Hannah folgte einigen anderen Kursteilnehmern in den Aufenthaltsraum.
Der Aufenthaltsraum war nur spärlich und lieblos eingerichtet, aber das große Sofa, über dem eine fleckige Decke lag, erschien Hannah jetzt wie der Himmel auf Erden. Die ältere, vornehm wirkende Dame, die ebenfalls am Kurs teilnahm, kochte erst mal in Seelenruhe eine größere Menge Tee in der kleinen Küchenzeile in der Ecke des Raumes und ließ sich dann seufzend in einen hohen Sessel fallen, der auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Drei weitere Teilnehmerinnen kamen hinzu und alle waren froh, ihre Finger um eine warme Tasse legen zu können. Sie unterhielten sich eine Weile, stellten sich einander vor und nach und nach begannen ihre Mägen zu knurren. Die beiden Praktikantinnen des Stalles, Gertrud aus Österreich und Maria aus Spanien, kamen nun dazu und begannen, Brote zu schmieren. Das war dann wohl das versprochene Mittagessen.
Mehr oder weniger gesättigt saßen sie noch eine Weile in dem kalten Aufenthaltsraum und dann ging Hannah nach Nora schauen. Sie fand sie im Stall vor Leonardos Box. Der tobte, lief ständig im Kreis, so gut das in der engen Box eben ging, und schnaubte nervös.
„Ach, er ist so toll!“ quietschte Nora, als sie Hannah kommen sah.
„Mir ist der zu hektisch.“
„Ach Quatsch, zu Hause, deine Zauberfee, die ist doch auch lebhaft.“
„Lebhaft ja, aber der ist gemeingefährlich.“
„Ich bin echt schon gespannt, wie er draußen so ist, im Gelände.“
Hannah konnte nichts mehr erwidern, da Jane und Babette, die sommersprossige Französin, wild miteinander diskutierend um die Ecke bogen.
Zwei Stunden später stand die nächste Reiteinheit an. Einige Kursteilnehmer hatten noch mal die Pferde tauschen müssen und Hannah saß nun auf einem kleineren, graubraun-weiß gescheckten Wallach. Es stand eine Einführungsrunde auf dem hofeigenen Geländeparcours an, der sich über mehrere Kilometer durch Wald, Wiesen und Felder erstreckte, alles auf dem Privatgelände des Stalles. Hier waren jede Menge feste Hindernisse installiert, unter anderem aus alten Baumstämmen, Holzfässern und –balken, aber es gab auch bunte Turnierhindernisse, Wassergräben oder Zäune.
Der Ritt hatte von Anfang an ein recht hohes Grundtempo und die Hindernisse machten Hannah schon jetzt Bedenken. Sie ritt, seit sie sieben Jahre alt war, immer nur dressurmäßig oder eben im Gelände, aber ohne Sprünge. Cappuccino, das Pferd, auf dem sie gerade saß, war ein verlässliches Springpferd, aber an dem ein oder anderen Hindernis merkte es doch Hannahs Unsicherheit und lief lieber gleich daran vorbei.
Es kam wie es kommen musste, im Wald bei einigen in Reihe zwischen zwei hohen Hecken aufgebauten Hindernissen fiel eine Reiterin vom Pferd und verursachte so eine Kettenreaktion, die noch zwei weitere Pferde zum Scheuen brachte. Eine Reiterin konnte sich gerade so noch an einem Baum festhalten und landete daher vergleichsweise weich. Die andere ging mitsamt Pferd in der Hecke zu Boden und hatte daraufhin sehr starke Schmerzen im Knie. Hannah bekam das nun reiterlose Pferd zu fassen und hatte somit eine Ausrede, nicht mehr springen zu müssen. Die Verletzte wurde mit dem Auto abgeholt und der Rest der Truppe ritt weiter. Hannah war doch ein wenig erstaunt darüber, dass sie nun alleine mit zwei Pferden zum Stall zurückgeschickt wurde, aber laut Maria war das vollkommen ok. Der Weg wäre ja eindeutig markiert und das Gebäude sei außerhalb des Waldes auch gut sichtbar. Sie würde den Weg schon finden.
Hannah schaffte es mit beiden Pferden ohne weitere Zwischenfälle zum Hof zurück, wo sie bereits von Jane in Empfang genommen wurde. Sie versorgten die Pferde und Hannah verabschiedete sich für den Tag.
Für den Rückweg brauchte sie länger als für den Hinweg und war wirklich froh, als die Pension endlich in Sicht kam. Hannah war enttäuscht über die schlechte Organisation des Reitkurses und vor allem über Nora, die sich doch sehr seltsam benahm. Ein wenig dominant war sie schon immer gewesen, aber dass sie sich jetzt so abweisend verhielt, das hatte Hannah nicht erwartet.
Als Hannah das schwere Holztor öffnete und über den Fußweg auf die Haustür zuging, sah sie, warum die Farm Cloverlane hieß. Der schmale, sorgfältig geharkte Kiesweg führte durch eine große Kleewiese. Mary und Colin standen an der Haustür und unterhielten sich, Mary schon wieder oder immer noch in Hausschuhen und ihrer Schürze von heute Morgen.
„Hallo, na, du siehst aber nicht gerade glücklich aus“, bemerkte Mary, als Hannah näher kam. Hannah wusste nicht, wo sie mit ihrer Erklärung anfangen sollte und sagte erst mal nichts.
„Colin, zeig ihr doch mal den Hof und unsere Tiere und dann gibt’s Abendessen!“ verkündete Mary und verschwand im Haus. Colin sah ihr irritiert hinterher, ging dann aber ein paar Meter am Haus entlang nach rechts. „Kommst du?“ fragte er über seine Schulter nach hinten. Hannah hätte zwar lieber erst geduscht und gegessen, aber eine Hofführung war natürlich auch interessant. Sie folgte Colin um die Ecke des Hauses herum und wurde im Hof von Arrow begrüßt.
„Ja, also, das ist unser Hof“, sagte Colin und nahm die Hände aus den Hosentaschen. „Hier links haben wir vier Außenboxen.“ Sie gingen an den Boxen vorbei, diese waren ein gutes Stück größer als die in der Reitanlage und über eine der Türen schaute ein dunkelbraunes Pferd interessiert zu ihnen herüber. Hannah streichelte ihm über die Nase.
Colin ging über den sehr sauberen Hof zu einer Scheune. „Hier ist unser Heu und Stroh drin, da links sind Sattel- und Futterkammer und die Toilette, und hier ...“ Er ging weiter und Hannah folgte ihm nach rechts in einen Anbau der Scheune. Arrow lief aufgeregt mit, so, als ob er den Hof ebenfalls zum ersten Mal besichtigen würde.
„Das ist unser Laufstall. Wir haben zwar draußen die Boxen und hinten noch eine große Weide, aber hier sind die Pferde nachts und oft auch tagsüber. Und nebenan auf dem Auslauf. Sie können rein und raus wie sie wollen“, sagte Colin. Er ging wieder an Hannah vorbei nach draußen.
Sie schaute noch einmal in den sehr großen, mit frischem Stroh eingestreuten Raum und fand Colin draußen an einem stabilen Holzzaun lehnen. Er kraulte ein großes, weißes Pferd. Als sie dazukam, ließ er das Pferd sofort los.
„Wieviele Pferde habt ihr?“
„Zur Zeit acht.“ Colin ging zur Seite, sodass Hannah die Pferde anschauen konnte. Alle, die gerade nicht vor sich hin dösten, sahen aufmerksam zu ihr herüber. Hinter dem Zaun sah man das Meer und die Luft roch frisch und salzig. Colin ging wieder über den Hof zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, bog dann aber links ab. Hannah bemühte sich, neben ihm zu bleiben. Mit seinen geschätzt ungefähr einsneunzig war er um einiges größer als sie und ihr kam es so vor, als brauchte sie zwei Schritte, wo er nur einen machte. Er blieb auf einem die Klippe entlang nach unten führenden Pfad stehen. Von hier oben aus hatte man einen wunderbaren Blick auf das Meer, den breiten Strand, die weitere Küstenlinie und den Himmel.
„Das ist echt eine schöne Aussicht“, sagte Hannah und steckte die Hände in ihre Taschen. Hier oben war es windig und es war ihr immer noch oder schon wieder kalt. Colin nickte nur.
„Und von dem Haus da hat man bestimmt auch einen tollen Blick“, fügte sie hinzu und zeigte auf ein neu aussehendes Wohnhaus, das dicht an der Steilküste nur etwa dreißig Meter entfernt stand. Colin grinste. „Oh ja, hat man. Da wohne ich.“
„Oh“, sagte Hannah nur und riss ihren Blick vom Meer los.
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