Im Zimmer angekommen ließ sie sich erst einmal auf das Bett fallen. Nachdem sie einige Minuten ohne zu denken dort gelegen hatte, machte sie sich bettfertig. Sie schlief sofort ein, der Tag war mehr als anstrengend gewesen.
Am nächsten Morgen war Hannah früh wach. Die erste Nacht in einem fremden Bett war immer seltsam. Sie kannte die Geräusche im Haus und in der Umgebung noch nicht, und meist wachte sie vor dem Wecker auf, so auch diesmal. Sie lag noch einen Moment still da und starrte an die Decke. Dann schwang sie mit einem Seufzen die Füße aus dem Bett.
Sie tappte angezogen, aber noch in Hausschuhen die Treppe hinunter und hörte schneller werdendes Pfotengetrappel und das Geräusch von Hundekrallen auf Steinboden. Der hellbraun-weiße, schlanke Hund wartete bereits am Fuß der Treppe auf Hannah und wedelte, was das Zeug hielt.
„Na du, guten Morgen, ja, ich komm ja, lass mich doch mal von der Treppe runter!“ begrüßte sie Arrow und streichelte ihn.
„Guten Morgen!“ sagte Colin aus der Tür neben der zum Kaminzimmer.
„Morgen!“ erwiderte Hannah und folgte dem Hund, der hinter Colin verschwunden war.
Als Hannah in den Raum trat, ging sie wie ferngesteuert zum Fenster. „Das ist wunderschön!“ sagte sie ein wenig zu laut.
„Wunderschön? Was? Die Gardinen?“ fragte es hinter ihr.
„Was?“ Hannah drehte sich um, in der Tür zur angrenzenden Küche stand Mary in einer hellblau-weiß karierten Schürze und hatte zwei Tomaten in der Hand.
„Nein, die Aussicht!“
„Ja“, sagte Mary nur und verschwand wieder in der Küche. Zwei Sekunden später erschien sie erneut im Türspalt. „Möchtest du Bacon und Rühreier?“
„Ja, gerne“, antwortete Hannah und schaute wieder aus dem Fenster. Man sah das Meer, einige Klippen und ein Stück Strand. Es war bewölkt und windig.
Sie setzte sich auf den ihr zugewiesenen Platz und Arrow legte ihr sofort seine Schnauze auf den Oberschenkel.
„Arrow, raus!“ herrschte Mary den Hund an, als sie einen Teller voller Baconstreifen und eine kleine Schüssel Rührei auf den Tisch stellte.
Die ersten Minuten des Frühstücks waren angespannt und geprägt von Höflichkeiten. Das Frühstück an sich war köstlich, neben den warmen Sachen gab es auch diverse, nach Marys Aussage selbstgemachte Marmeladen, sowie knusprig aussehendes Brot und eine kleine Auswahl Wurst und Käse. Mary schlitzte mit Hingabe an einer gebratenen, glibberigen Tomate herum.
„Reitest du zu Hause auch?“ fragte Colin in die Stille hinein.
„Ja, ich hatte fünfzehn Jahre lang ein eigenes Pferd, aber er musste vor drei Jahren eingeschläfert werden.“
„Oh, tut mir leid.“
„Schon gut.“
„Und wo kommst du her aus Deutschland?“ fragte Mary beiläufig.
„Aus der Nähe von Frankfurt.“
„Wo ist das? An der Küste?“ fragte Mary. Hannah wusste nicht, ob Mary ernsthaft an einer Antwort interessiert war oder ob sie nur aus reiner Höflichkeit gefragt hatte.
„Nein, es ist eher in der Mitte von Deutschland. Also nicht am Meer.“
Mary nickte. „Möchtest du noch etwas Tee?“
Hannah konnte die Konsequenzen einer Ablehnung nicht einschätzen und hielt Mary ihre Tasse hin.
„Was reitest du?“ fragte Colin weiter und nahm sich eine weitere Scheibe Brot, während Hannah ihre nun sehr volle Teetasse und das passend geblümte Untertellerchen zurückbalancierte.
„Dressur und bisschen raus. Springen ist nicht so meins.“
„Und wie kommst du dann zu einem Cross-Country-Kurs hier?“ fragte Colin und sah Hannah an.
„Das ... ist eine andere Geschichte.“ Hannah nahm sich noch zwei Streifen Bacon, die die Tischdecke volltropften.
„Warum? Dafür kommen die Leute von weit her dorthin“, sagte Mary laut und fügte „Warum auch immer ...“ sehr leise hinzu.
„Ich hatte noch so viel Urlaub übrig dieses Jahr und mein Chef hat mich quasi gezwungen, den jetzt zu nehmen. Und Nora, meine Freundin oder eher Bekannte aus dem Stall hat mich vor drei Tagen überredet, diesen Reiturlaub zu machen. Das war alles ziemlich kurzfristig. Mir hat sie es als Ausreiturlaub verkauft. Dass sie uns zu einem Springkurs angemeldet hat, hat sie mir verschwiegen“, erklärte Hannah wahrheitsgemäß. „Sie wollte wohl nicht alleine fahren.“
„Oh“, sagte Mary nur und aß weiter.
„Vielleicht wird es ja trotzdem ganz interessant für dich“, sagte Colin nach einigen Minuten Stille. „Sie haben eine eigene Springstrecke.“
„Du kannst ja auch mit Colin mal ausreiten“, fügte Mary entschlossen hinzu, stand auf und erklärte damit das Frühstück inoffiziell für beendet. Hannahs Rückfrage „Ach, ihr habt auch Pferde?“ ging im allgemeinen Stühlerücken unter. Sie half beim Abräumen, durfte aber offensichtlich die Küche nicht betreten. Alles, was sie in die Küche bringen wollte, wurde ihr von Mary oder Colin an der Küchentür abgenommen.
„Ach ... brauchst du ein Lunchpaket?“ fragte Mary, als sie Hannah die Zuckerdose aus der Hand nahm.
„Ich weiß nicht. Angeblich ist ein kleines Mittagessen beim Reitkurs dabei.“
Colin schob sich an Hannah vorbei zur Küchentür und machte ein abwertendes Geräusch.
„Na, dann viel Glück“, sagte Mary und gab die Zuckerdose an Colin weiter, der sie in die Küche mitnahm. „Aber Abendessen möchtest du? Oder gehst du wieder mit deiner Freundin essen?“
„Abendessen wäre echt prima, ja“, sagte Hannah und freute sich schon jetzt darauf.
„Wie meinst du das? Und wie soll ich jetzt zu euch kommen?“ fragte Hannah ins Telefon. Sie saß bereits in Reitkleidung auf ihrem Bett und legte die Stirn in Falten. Nora blökte ihr sehr abgehackt etwas ins Ohr von wegen zugeparkt und dass Hannah leider laufen müsse, es sei ja nicht so weit. Na danke auch.
Sie packte ihre Sachen zusammen und zog unten im Flur ihre Reitschuhe an. Sie bekam kaum die Schnürsenkel zu, weil Arrow jede Chance nutzte, ihr quer durchs Gesicht zu lecken.
„Kommt deine Freundin dich abholen?“ fragte es hinter ihr. Mary stand in dunkelgrün-karierten Pantoffeln hinter Hannah, in den Händen ein Geschirrhandtuch und ein Glasschüsselchen.
„Nein, ich muss laufen, sie will nicht“, antwortete Hannah und konnte ihre Wut darüber nicht verbergen.
„Oh“, sagte Mary nur und trocknete weiter das Glasschälchen ab. „Dann hab trotzdem einen schönen Tag.“
Colin kam aus der Bürotür in den Flur. „Wenn sie dir das verrückte, schwarze Pferd andrehen wollen, lehn ab“, sagte er noch, bevor er im Esszimmer verschwand. Hannah nickte, atmete durch und öffnete die Haustür.
Während des zwanzigminütigen Marsches leicht bergauf zum Reitstall hätte Hannah rein theoretisch alle Zeit der Welt gehabt, sich wieder zu beruhigen, es funktionierte nur leider nicht. Es nieselte, es war kalt und sie wurde fast von einem Transporter voller Schafe überfahren. Immerhin konnte sie manchmal zwischen den Häusern und Bäumen hindurch das Meer sehen und die Luft roch würzig und frisch.
Als ihr die Beine und Füße schon wehtaten, kam sie endlich über die Hügelkuppe und das große, graue, gutshausartige Haupthaus der Reitanlage kam in Sicht.
Als Hannah die Einfahrt erreicht hatte, bestätigte sich ihr Verdacht. Noras Mietwagen stand an einer Stelle, an der es unmöglich war, ihn zuzuparken. Hannah ging an dem großen Gebäude vorbei, über den Hof und in Richtung Reithalle. Es war schon viel los, mehrere Leute in Reitklamotten liefen hier herum.
Im Vorraum der Reithalle fand Hannah Nora, die mit einigen anderen Reitgästen zusammenstand und lautstark und gestenreich gerade etwas erzählte.
„Guten Morgen“, sagte Hannah und stellte sich zu der Gruppe.
Viel Zeit für eine Vorstellungsrunde war nicht, denn kurze Zeit später trat eine große, sehr schlanke Frau aus dem Büro, gefolgt von zwei kleineren Frauen, einer Schwarzhaarigen und einer Brünetten. Die große Frau hatte ihre glatten, langen Haare zu einem festen Pferdeschwanz gebunden und sah dadurch sehr streng aus. „Guten Morgen, hallo, bitte mal zuhören!“ Ihre Stimme hallte durch den hohen Raum und man hörte sofort, dass sie Erfahrung hatte im Herumkommandieren von Mensch und Tier. Die Gespräche verstummten sofort und alle sahen zu ihr. Hannah zählte durch, es waren vierzehn Frauen im Alter zwischen geschätzt sechzehn und sechzig, die hier versammelt waren.
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