„Ich hole jetzt noch zwei Pferde rein, du kannst mitkommen oder schon rüber gehen.“ Er drehte sich um und lief los, ein Stück in Richtung Farmhaus zurück und bog aber einige Meter weiter links in einen Weg ab, der von niedrigen Bäumen und Büschen begleitet wurde. Hannah folgte ihm.
Nachdem sie schweigend um die hundert Meter weit gelaufen waren, kamen sie aus den Bäumen heraus zu einer sehr großen, viel zu grünen Wiese. Alle Wiesen hier waren so tiefgrün, so etwas gab es in Deutschland nicht. Weiter rechts sah man die Landstraße, links fiel die Steilküste zum Meer hin ab. Dazwischen lag eine riesengroße Pferdeweide, deren Ende Hannah nicht erkennen konnte.
Zwei kleinere Pferde, eins graubraun und eins schwarz, beide sehr rund und zottelig, kamen langsam zum Tor gelaufen. Einige Meter davor hielten sie an und schnaubten.
„Geh bitte zur Seite“, sagte Colin zu Hannah und öffnete das Tor. Die beiden Pferde trotteten durch das Tor und liefen in Richtung Stall.
„Ähhmm“, machte Hannah nur fragend und Colin lächelte. „Die kennen das.“
Sie folgten den Stuten bis zum Hof, wo eine der beiden eine Kabbelei mit dem Pferd in der Box anfing und von Colin weitergescheucht werden musste. Hierzu reichte ein Klaps auf den Hintern aus. Das andere Pferd stand bereits an der Scheune und sammelte am Boden liegende Heuhalme auf.
Nachdem sie beide Pferde und auch das aus der Box zu den anderen auf den Paddock gebracht hatten, gingen sie hinüber zum Haupthaus.
Schon im Flur roch man das Essen. Es duftete so fantastisch nach gebratenem Fleisch und noch weiteren Dingen, dass Hannahs Magen augenblicklich laut brummte.
„Hunger?“ fragte Colin, während er seine Schuhe wegstellte.
„Ja.“
„Na dann los.“
Hannah huschte noch kurz nach oben, brachte ihre Sachen weg und setzte sich dann im Esszimmer auf ihren Platz. Arrow kam sofort zu ihr, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen, wurde aber von Colin nach nebenan geschickt.
Die Küchentür ging mit einem Schwung auf und Mary brachte die Quelle des fantastischen Duftes, der in der Luft hing: Eine große, dampfende Schüssel.
„Was ist das?“ fragte Hannah. „Das riecht wahnsinnig gut.“
Mary stellte die Schüssel ab und lächelte stolz.
„Das ist Moms berühmtes Stew. Ich bin sicher, es wird dir schmecken“, sagte Colin und nachdem Mary einen Tischsegen gesprochen hatte, begann Colin, jedem eine Portion herauszuschöpfen. Hannah kamen fast die Tränen, so gut roch das Essen.
Sie bekam eine dunkelbraune Schale überreicht. Darin fand sie einen Eintopf bestehend aus Rindfleischstücken, Kartoffeln, Karotten und Zwiebeln vor und dem Geruch nach zu urteilen auch etwas Knoblauch. Es schmeckte so, wie es roch, nämlich fantastisch. Es war würzig, aber nicht zu scharf. Hannah konnte sich nicht erinnern, je etwas so Gutes gegessen zu haben.
„So, dann erzähl mal, wie war es denn heute beim Reiten?“ fragte Mary.
„Katastrophal“, sagte Hannah wahrheitsgemäß.
„Aha? Warum das?“
„Sie wollten mir wirklich das schwarze Pferd geben“, sagte Hannah und angelte mit ihrem Löffel einen Fleischbrocken aus ihrer Suppenschale.
„Nein!?“ sagte Mary laut.
„Doch.“ Hannah grinste. „Aber ich habe abgelehnt.“
„Welches? Leonello oder so ähnlich?“ fragte Colin.
„Leonardo, ja“, sagte Hannah und bekam von Mary einen Nachschlag des Eintopfs zugeteilt.
„Er hat direkt nach mir getreten, als ich die Boxentür aufgemacht habe. Das war mir zu kritisch. Erst wollte Jane mir kein anderes Pferd geben, aber dann kam ein älterer Mann dazu und ich durfte Geronimo nehmen.“
„Geronimo?“ fragte Colin und sah mit erhobenen Augenbrauen zu Mary, die ebenfalls überrascht aussah und ihre Augenbrauen bis zum Haaransatz hochzog. Sie nickte. „Das ist Patricks altes Jagdpferd. Der ist bestimmt schon fünfundzwanzig.“
„Ich wusste gar nicht, dass er noch lebt“, sagte Colin und nahm sich noch einen Nachschlag.
„Wie war es mit ihm? Da hast du auf einer Legende gesessen, mein Kind“, sagte Mary mit Ehrfurcht in der Stimme. Hannah musste grinsen. „Legende?“
„Die beiden waren auf Turnieren hier in der Gegend sehr erfolgreich. Seid ihr auch gesprungen?“ fragte Colin.
„Ja. Aber das ist echt nicht meins. Nachmittags sind wir auf der Springstrecke geritten und da gab es einige Unfälle, eine musste mit dem Auto geholt werden, weil sie vom Pferd gefallen ist und sich das Knie verdreht hat. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmeres.“
„Oh.“ Mary ließ ihren Löffel sinken. „Aber sonst war es ok? Geronimo ist doch bestimmt ordentlich gesprungen?“
„Ja, schon. Aber mittags hatte ich ein anderes Pferd, einen graubraunen Schecken.“
„Oh, aha?“
„Ich finde es allgemein sehr chaotisch und schlecht organisiert.“
„Du kannst ja morgen mit Colin mal ausreiten“, sagte Mary. Colin machte ein undefinierbares Geräusch und Hannah sagte lieber nichts weiter und widmete sich wieder ihrem Eintopf.
Das Klingeln an der Tür ließ alle drei den Kopf heben.
„Wer klingelt denn jetzt?“ fragte Mary mit Entsetzen in der Stimme und stand auf.
„Vielleicht noch mehr Übernachtungsgäste“, sagte Colin und bekam einen tadelnden Hieb ab, als Mary an seinem Stuhl vorbei in den Flur ging. Im Nachbarzimmer hörte man Arrow aufstehen und leise knurren.
„Habt ihr nichts zu essen bekommen heute Mittag?“ fragte Mary erstaunt, als sie ins Zimmer zurückkam.
„Naja, Tee war da und sie haben uns Brote geschmiert.“
„Ach herrje“, sagte Mary nur.
„Wer war denn an der Tür?“ fragte Colin.
„Es war Hannahs Freundin von gestern Abend. Sie wollte fragen, ob Hannah mitfahren möchte in den Ort. Ich hab ihr gesagt, dass wir gerade essen und sie nicht mitfährt.“ Mary sah zu Hannah. „Ich hoffe, das war in Ordnung so. Willst du noch etwas?“
„Nein danke, ich bin echt satt. Es war sehr lecker.“
Mary lächelte zufrieden und gab Colin noch eine Schöpfkelle Eintopf. Er protestierte nicht.
„Also hast du sie wieder weggeschickt? Sie hätte doch auch mitessen können. Es ist noch genug da.“
Mary bedachte Colin mit einem Blick, den Hannah nicht deuten konnte. „Nein“, sagte Mary sehr deutlich und laut. „Ich mag sie nicht. Und Arrow hat sie auch sofort angeknurrt. Außerdem waren da mehrere Autos vorne an der Straße. Ich werde nicht deren Leute hier durchfüttern.“ Damit war das Thema beendet und nachdem Colin seine Portion aufgegessen hatte, stand Mary auf und ging in die Küche. Hannah half, die Teller und das Besteck zusammenzuräumen.
Sie fragte sich gerade, ob ihre Gastgeber in der Küche verschollen waren, als beide zurückkamen und ihr eine Schüssel mit Vanilleeis mitbrachten. Nachdem auch das noch weggeputzt war, verabschiedete sich Hannah für heute, auch von Arrow, der ihr mit leichtem Schwanzwedeln und traurigem Blick nachsah, als sie die Treppe hochstieg.
Als sie ihre Reitklamotten auszog und sich unter die heiße Dusche stellte, merkte sie erst, wie anstrengend der Tag heute gewesen war. Das warme Wasser tat gut und obwohl Hannah noch lesen und sich noch bei ihrem Freund melden wollte, kroch sie lieber unter die Bettdecke und stellte sich den Wecker für morgen früh. Sie war wirklich müde, dachte aber noch für ein paar Momente über den heutigen Tag nach. Fast hatte sie Mitleid mit Nora und deren Unterkunft, wischte diesen Gedanken aber sofort zur Seite. Colins Stall und auch die Pferde hier am Hof waren ihr um Längen sympathischer als der große Turnierstall, der auf sie für Mensch und Tier einen abweisenden Eindruck machte.
Als Hannah am nächsten Morgen nach einem erfrischenden Marsch durch die in dichte Nebelschwaden gehüllte Landschaft überpünktlich die Reithalle betrat, war weit und breit noch niemand zu sehen. Die Pferde in den Boxen waren ruhig und fraßen, ab und zu hörte man ein Schnauben. Hannah klopfte an die Bürotür, erhielt aber keine Antwort. Sie schaute vorsichtig hinein, aber der kleine Raum war leer.
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