„Hier ist das Bad“, hörte Hannah ihn sagen und schaute in das kleine Zimmer. Wow, ein eigenes Badezimmer!
„Das hier ist deins. Draußen gegenüber der Treppe ist noch eins, aber bitte benutze das hier. Mom teilt ihr Bad nicht gerne.“ Er brachte ein schräges Grinsen zustande.
„Ok“, sagte Hannah. Das Badezimmer sah frisch renoviert aus und hatte sogar ein Fenster. Der Boden bestand aus schwarzen und weißen Fliesen und die auf Antik getrimmten Armaturen an den modernen Sanitärobjekten passten hervorragend dazu. Hier konnte man sich wirklich wohlfühlen, so einen Luxus hatte Hannah definitiv nicht erwartet.
„Das ist super schön hier, vielen Dank noch mal“, sagte Hannah. Der Mann nickte und ein dumpfes Hupen ließ sie beide aufschauen.
„Da wird jemand ungeduldig“, stellte er fest. „Übrigens, ich bin Colin.“ Sie schüttelten sich erneut die Hände. „Fahrt jetzt erst mal etwas essen, wir sind nachher noch unten im Kaminzimmer, die Tür neben dem Büro, falls du noch Fragen hast. Ach, und, guter Tipp: Iss keinen Burger bei der Imbissbude. Die Döner sind ganz okay.“ Er lächelte aufmunternd und hielt Hannah die Zimmertür auf.
„Warum hat das denn so ewig gedauert?“ fauchte Nora Hannah an, als diese sich neben ihr auf den Beifahrersitz fallen ließ. „Ging halt nicht schneller“, entgegnete Hannah. Sie verzichtete darauf, Nora auch nur ein einziges Detail ihres fantastischen Zimmers zu verraten. Nora startete mit zusammengepressten Lippen das Auto und fuhr zügig los. Die Fahrt verlief in angespannter Stille.
Eine Viertelstunde später saßen sie in der von Neonröhren erhellten Imbissbude an einem klebrigen, dunkelbraunen Plastiktisch. An der Theke standen einige leicht verwahrlost wirkende Männer und schauten immer wieder zu den beiden Frauen herüber, wenn sie nicht gerade der Sportsendung auf dem winzigen, unter der Decke montierten Röhrenfernseher folgten oder sich gegenseitig mit ihren Pappbechern zuprosteten.
„Weißt du schon, was du nimmst?“ fragte Nora über den Rand der fleckigen Speisekarte hinweg.
„Döner wahrscheinlich“, sagte Hannah leise.
„Ich nehm einen Burger. Warum nimmst du keinen? Du magst doch Burger?“
„Ich mag auch Döner“, erwiderte Hannah.
Nachdem sie ihr Essen an der Theke bestellt und kurze Zeit später auch gebracht bekommen hatten, aßen beide schweigend einige Minuten lang.
„Na, haben wir‘s doch noch geschafft! Ich hab doch gesagt, es findet sich was!“ verkündete Nora fröhlich und biss in ihren Burger, der vor Fett nur so triefte. Hannah war kurz davor, sie anzuschreien, hielt sich aber zurück. „Ja, ich bin echt froh, dass die da noch ein Zimmer hatten. Wann geht’s denn morgen eigentlich los mit dem Kurs?“ fragte sie und war Colin sehr dankbar für den Tipp, Döner zu essen. Der war nämlich sehr lecker und um Längen fettärmer als das, was Nora da gerade verspeiste.
„Um zehn in der Reithalle. Ich freu mich schon. Wir können da auch einen richtigen Springkurs machen, Cross-Country oder wie die das hier nennen, sowas haste ja in Deutschland nich. Das will ich auf jeden Fall machen. Und Verkaufspferde haben die auch! Vielleicht find ich da eins und du auch. Du suchst doch schon so lange. Boah, du, ich bin gleich wieder da.“ Nora warf beim Aufstehen fast ihren Stuhl um und verschwand neben der Theke in einem kleinen Flur.
Hannah aß in Ruhe ihren Döner fertig, beobachtete nebenher das Fußballspiel auf dem Fernseher und konnte sich ein gewisses Gefühl der Genugtuung nicht verkneifen. Seit ihrer Ankunft in Dublin und der Mietwagenübernahme war Nora zwischen fast schon hyperaktiver Vorfreude auf den Reiturlaub und boshaftem Schikanieren von Hannah hin- und hergewechselt. Nichts hatte sie ernst genommen. Weder Hannahs Kartenlesekünste, noch die Hinweise, dass sie doch bitte etwas weniger ruckartig fahren solle. Und jetzt – Springkurs? Hätte Nora das vielleicht mal früher sagen können? Hannah gegenüber hatte sie es als netten, erholsamen Ausreiturlaub angepriesen. Und auch noch Verkaufspferde? Ja, sie suchte ein neues Pferd, als Nachfolger für ihren Wallach, der mit ihr fünfzehn Jahre lang durch Dick und Dünn gegangen war. Immer nur die Pferde ihres Freundes zu reiten, war auf Dauer nichts für sie. Aber genauso wenig wusste sie, ob sie seine Turnier- und Erfolgsbesessenheit weiterhin mitmachen wollte. Ja, ein junges Pferd mit einem gewissen Maß an Dressurtalent und Turniereignung hätte sie gerne, aber nicht um jeden Preis. Und dass sie das hier finden würde, erschien ihr unrealistisch. Hätte sie sich doch bloß nicht von Nora zu diesem Urlaub überreden lassen! Vor drei Tagen noch hatte sie nicht gewusst, was sie in den von ihrem Chef angeordneten zwei Wochen Urlaub machen sollte und heute saß sie hier am Ende von Irland in einer illustren Imbissbude im Nirgendwo.
Hannah fühlte sich alleine gelassen, verloren und auch unwohl. Sie kannte Nora nicht besonders gut, man sah sich zwar fast täglich im Reitstall, aber sie hätte sich das schon denken können, dass sie aneinander geraten würden. Sie waren über fünf Stunden in dem knarzenden Kleinwagen quer über die Insel hierher geschaukelt, im Regen, und hatten sich mehrfach verfahren, weil Nora ihr Navi zu Hause vergessen hatte und Hannahs Richtungsempfehlungen nicht hatte glauben wollen. Und dann noch die Katastrophe mit der fehlenden Unterbringungsbuchung. Nora hatte die Informationen auf der Internetseite des Reitstalls nicht richtig gelesen. Manchmal konnte man glauben, Noras Aufmerksamkeitsspanne entsprach der eines Goldfisches. Der Reitstall war für diesen Reitkurs ausgebucht und hatte nur noch ein Bett frei gehabt, das Nora natürlich sofort für sich beansprucht hatte. Und das Hannah auch gar nicht hätte haben wollen. Ein schmales Etagenbett in einem Vierbettzimmer, mit fleckiger Matratze und fragwürdig aussehender Leihbettwäsche in einem kargen, zugigen Betonbau, der im Flur schon verdächtig nach Schimmel roch. Da hatte sie es mit der Pension schon besser getroffen.
„Na, geht’s besser?“ fragte Hannah Nora, die gerade eben arg bleich zurück an den Tisch gekommen war und ihren Teller gleich von sich wegschob. „Bist du fertig? Mir is echt nich gut“, sagte sie und setzte ein leidendes Gesicht auf.
„Du bist auch ganz blass. Komm, wir gehen an die frische Luft.“ Die beiden brachten ihre Teller an die Theke zurück und standen dann wieder draußen in der kalten Nachtluft.
„Geht’s oder soll ich fahren?“ fragte Hannah.
„Nee, geht schon“, sagte Nora zerknirscht.
Hannah fand den Haustürschlüssel und schloss die Tür der Pension auf. Sie stellte ihre Schuhe zu den anderen neben die Haustür und hängte ihre Jacke auf. Kaminzimmer, hatte Colin gesagt, wo war das gewesen? Zweite Tür links?
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Eine Hundeschnauze schob die Tür neben dem Büro auf und Hannah wurde herzlich mit Schwanzwedeln begrüßt.
„Ja, hallo, ist ja gut“, sagte sie zu dem fröhlichen Hund, der sich benahm, als sei er wochenlang nicht gekuschelt oder auch nur angefasst worden und als sei Hannah seine lang vermisste Freundin und die Einzige, die ihm jetzt noch helfen konnte.
Hannah schaute in das Zimmer hinein, aus dem der Hund gekommen war. Colin war nicht zu sehen, aber die Hausherrin saß in einem großen, geblümten Ohrensessel und strickte. Sie sah über den Rand ihrer schmalen Brille hinweg zur Tür und ließ das Strickzeug sinken. „Ach, du“, sagte sie, strickte einige Maschen weiter und schaute erneut zu Hannah. „Ja, bitte?“
„Ähm ... wann gibt es denn Frühstück morgen? Ich muss um zehn drüben beim Stall sein.“
„Um acht wäre es gut, gute Nacht“, sagte die Frau und strickte sehr konzentriert weiter.
„Danke, gleichfalls“, sagte Hannah und verabschiedete sich von Arrow, der ihr nachsah, als sie die Treppe hochstieg.
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