Jeannette König - Du kennst nie die ganze Geschichte

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Frau Kan hat aus allem etwas gemacht. Jetzt, zuletzt, entzieht sie sich der Optimierung ihres Alters, dem Zugriff ihrer Lieben und der gesundheitsdienstlichen Versorgung. Sie imaginiert das Sterben durch Verdursten, beginnt Vorbereitungen zu treffen. Frau Kan beginnt aufzuräumen. Es gilt zwei grosse Hartplastikkisten voll festgehaltenes Leben zu entsorgen. Frau Kan gewinnt das Vertrauen der Spitex Pflegefachfrau Hana Maric, die jeden Werktag vorbeikommt. Hana Maric, die als zweijähriges Kind mit ihrer Mutter aus Sarajevo geflohen ist, unterlässt die verordneten pflegerischen Leistungen und hilft Frau Kan auszusortieren. Wellenförmig fliesst das Aufräumen mit dem Ende vor Augen durch Frau Kans Tage. Gegenwart verschmilzt mit Erinnerungen. Mit Hilfe von Galib, Hana Marics Cousin, findet sie Aufenthaltsort und Adresse des damals jungen, liebenswerten Mannes heraus, dessen Bild die erfolgreich im Beruf stehende Frau Kan am Boden der psychiatrischen Klinik mit Füssen getreten hatte. Frau Kan besucht den Mann im staatlichen Alters- und Pflegeheim. Frau Kan bringt mit Hana zusammen petits billets eines verstorbenen Bekannten ins Kunstmuseum. Frau Kan und Hana sitzen im Kaffee des Kunstmuseums beim Kuchen. Hana lädt Frau Kan in den Gogol Verein zu einem Vortrag über Nabokov ein. Hana Maric und ihr Cousin verkehren in dem russischen Verein, der offen ist für alle, die eine Heimat suchen. Frau Kan wird zu Hana Marics und Galibs Komplizin, unterstützt sie mit Übersetzen und Koffertragen bei einer Mission in Genf. In der Nacht auf den 1. März erhält Frau Kan einen nächtlichen Anruf.

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Jeannette König

Du kennst nie die ganze Geschichte

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Inhaltsverzeichnis Titel Jeannette König Du kennst nie die ganze Geschichte - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Jeannette König Du kennst nie die ganze Geschichte Dieses ebook wurde erstellt bei

Das Ende

Schreiben sie etwas zur Geschichte ihrer Familie

Das Ende 2

Schreiben sie etwas zur Geschichte ihrer Familie 2

Das Ende 3

Verschwinden

Schreiben sie etwas zur Geschichte ihrer Familie 3

Das erste Fremdheitserlebnis

Frau Kans Aufräum-Strategie

Das Ende 4

Frau Kans-Aufräumplan

Frau Kan räumt auf

Mimi

Frau Kan räumt auf 2

Die Weiterentwicklung von Frau Kans Aufräum-Strategie

Das Täschchen

Drei Tage und die Linden blühn 1

Drei Tage und die Linden blühn 2

Mein kleiner Geburtstagslöffel

Schreiben sie etwas zur Geschichte ihrer Familie 4

Drei Tage und die Linden blühn 3

Erwachen

Mittwoch 21. Februar

Hana kommt

Träume

Recherche nach dem liebenswerten jungen Mann

Das Porzellanreh

Das Ende 5

Deutschland ist gross

Frau Kan hat aus allem etwas gemacht

Gelb

Der nachgeholte Morgenspaziergang

Es wird morgen werden

Biografie

Die beiden Frauen machen weiter

Schnitzeljagd

Samstag 24. Februar

Die letzte Wanderung

Thun

Im Bellevue au lac

Sonntag 25. Februar

Heimfahrt

Graf Marian Langieviczes Braut

Untergang der Uhrenindustrie

Graf Marian Langieviczes Braut 2

Montag 26. Februar

Petits billets

Dienstag 27. Februar

Spaziergang im Schnee

Mittwoch 28. Februar

You never know the whole story

Gleichzeitiges

Die Nacht zum 1. März

Impressum neobooks

Das Ende

Nur keine Streifung! Jetzt. Zuletzt. Keine verstopfte Hirnarterie. Keine Explosion im Kopf. Nicht auslaufen. Kein unkontrollierter Stuhlabgang. Austrocknen. In die Haut verpackt. Die Haut wird halten. Einölen. Einbalsamieren. Die Haut jeden Tag einölen. Sie wird drei vier fünf Tage halten. Ausgetrocknet. Gegerbt. Über die Knochen gespannt. Sie werden mich ausziehen. Den natürlichen Tod durch Exsikkose feststellen. Ein seidenes Wort. Ein kosendes Wort. Frau Kan hat keine Orangenhaut. Anne hat Frau Kan erzählt, dass die Orangen wie Murmeln auf dem Schiffsboden herum gekullert sind. Die Mutter ist mit Anne von Indien nach England zurückgekehrt. Das Schiff ist in Seenot geraten. Die dazugehörende Chinesin hat die Stricknadeln auf das Rettungsboot mitgenommen. Annes Mutter hat die Chinesen geliebt und die Juden gehasst. Anne, die Mutter und die Chinesin sind gerettet worden. Die Chinesin hat dem Kind Anne Socken gestrickt. Die erwachsene Anne hat das Glas Milch gemalt, das ihr die Engländer an Land zu trinken gegeben hatten. Anne hat Frau Kan Fotos von den Bildern gezeigt, die sie gemalt hat. Kullernde orangene Bälle auf den Wellen. Kullernde orangene Bälle, die das Rettungsboot in die Luft schleudern. Der Horizont ein Uferstrich aus schaumiger Milch. Die Chinesinnen Socken sind mit mir mitgewachsen, hatte Anne gesagt. Sie wärmen immer noch. Frau Kan will die Socken anziehen, die Ottos Frau am Sterbebett ihres Mannes gestrickt hat. „So viele Socken“, hatte Ottos Witwe gesagt. „Kannst du welche gebrauchen? Für die Flüchtlinge vielleicht?“ Ein Paar hat Frau Kan für sich behalten. Die graublau Gesprenkelten. „Alles Restwolle“, hatte Ottos Witwe gesagt. Frau Kan erinnert sich an ihre Serie ‚gestrickter Wald‘. Frau Kan hat das Gestrickte wieder aufgetrennt. Das Material im Wald entsorgt. Wo hätte sie die verstrickte Waldserie aufbewahren sollen. Ich hätte Socken stricken sollen, denkt Frau Kan. Oder Schals, wie Erika. Socken und Schals konnte immer jemand gebrauchen. Frau Kan erinnert sich an die Strickheftchen zu Hause. An die Modezeitschrift ihrer Mutter. Die Aufregung bis das Modell, die Wolle, das Muster, die Farbe festgelegt waren. Beim Stricken konnten die Frauen im Dorf punkten. Das Kind Kan war eine geschickte Strickerin gewesen. Elfjährig hat das Mädchen Kan aufgehört zu stricken und für sich das Recht erstritten den Lateinunterricht zu besuchen, der während der Handarbeitsstunden der Mädchen stattgefunden hatte. Jetzt ist alles anders, denkt Frau Kan. Auch in New York. Damals. Das gelbe Zelt. Ein Quadratkilometer grosses, aufgeblasenes Sonnenblumenfeld. Mitten im Central Park. Frauen – ein paar Männer – auf Holzbänken. Sie strickten. Lernten stricken. Ermutigt von einer evangelikalen Erweckungsstimmung. Damals in den 90er Jahren, erinnert sich Frau Kan. Verstrickte Zeit. Geburtsdatum. Höchster beruflicher Abschluss. Heirat. Geburt der Kinder. Scheidung. Stellenwechsel. Wohnungswechsel. Abschiede. Hans, Wolfgang, Jürg, Henrique, Luzi, Roberto, Bernard. Die Daten. Das Jahr. Die Jahreszeit. An die Jahreszeit kann sich Frau Kan erinnern. An Sätze, an Gerüche, Geschichten, bis hin zu den Bewegungen. Die Zeit zu verlieren ist gefährlich, denkt Frau Kan. Darauf steht Verwahrung. Die graublau gesprenkelten Socken werden mich wärmen, denkt Frau Kann. Sie findet die Socken im Keller. Im gelben Seesack, in dem sie Kleider aufbewahrt, die eventuell noch zu gebrauchen sind. Frau Kan trägt den Seesack in ihre Wohnung. Gelb. Immer wieder Gelb, denkt Frau Kan. Die Socken legt Frau Kan in die bereits geleerte Schublade im Schlafzimmerschrank. Den Rest leert Frau Kan auf den Boden. Der Seesack kann noch verwertet werden. Kameltrekkings gibt es auch heute noch. Der Seesack hat Frau Kan zwei Mal im Sinai seine Dienste geleistet. Frau Kan wird den gelben Seesack auf das Trottoir stellen. Über die Mittagszeit, wenn alle am Essen sind. Frau Kan räumt auf. Ein Glücksgefühl. Licht flutet den Rasen der gelebten Jahre. Ein Taumel. La petite mort. Sie nimmt die Socken wieder aus der Schrankschublade, legt sie auf den Schreibtisch im Schlafzimmer. Frau Kan muss den Ort für die letzten Dinge noch finden. Schlaf- und Arbeitszimmer sind in Frau Kans Wohnung ein einziger Raum. Typisch Kan. Zwei Mal, als Frau Kan mit einem Mann zusammengewohnt hatte, war Schlaf- und Arbeitszimmer untypisch Kan getrennt gewesen. Vielleicht drei Mal, denkt Frau Kan. Sie erinnert sich nicht genau. Die Raumaufteilung ist jetzt weniger wichtig, als die Zeiteinteilung. Warum dies so ist, kann sich Frau Kan nicht erklären. Bei jedem Umzug hatte Frau Kan aufgeräumt. Sich erneuert. Reduziert, wieder ausgeweitet. Ein zeitfüllendes Orgelspiel, denkt Frau Kan. Ob der Vergleich stimmt, ist jetzt nicht von Bedeutung.

Schreiben sie etwas zur Geschichte ihrer Familie

Frau Kan legt die über sich selbst gestülpte Sockenwurst wieder in die Schrankschublade zurück. Otto ist bei Grossmutter aufgewachsen. Aber Otto ist nicht Grossmutters Kind gewesen. Niemand hat darüber gesprochen, wessen Kind er gewesen ist. Ein Jahr vor Ottos Tod – er hatte gewusst, dass er bald sterben würde – hat Frau Kan von Otto erfahren, dass er ein Verdingkind gewesen ist. Ein Verdingkind. Die geliebte Grossmutter, die grossherzige Grossmutter, die Grossmutter, an deren Tisch stets jemand mitgegessen hatte, hatte sich ein Verdingkind gehalten. Ein seinen Eltern entrissenes Kind, Grossmutter für die Erziehung zur Rechtschaffenheit durch Arbeit und Disziplin übereignet. Ob er es wenigstens gutgehabt habe, war alles gewesen, was Frau Kan hatte sagen können. Otto hatte geweint. Otto hatte für sich selbst keine Entschädigung vom Staat zur Wiedergutmachung beantragt. Für seine Schwester, habe er eine beantragt, hatte er gesagt. Ihm gehe es ja gut. Otto ist Grenzwächter und weltgereistes Mitglied der Schweizer Nationalmannschaft im Pistolenschiessen gewesen. „Schreiben sie etwas zur Ge­schichte ihrer Familie.“ Die Geschichte einer Arbeiterfamilie in der Nachkriegszeit in einem protestantischen Dorf in der Schweiz an der Grenze zu einem katholischen Kanton. Fahrrad und Postauto als Bewegungsmittel. Vier Postautoverbindungen an den Werktagen und eine Verbindung an Samstagen, Sonn- und Feiertagen. In Richtung Katholiken fuhr man nur zum Arzt oder zum Zahnarzt, weil es in die andere Richtung zu weit gewesen wäre oder überhaupt nicht. Lieber Herr Barb, ich habe nichts zur Geschichte meiner Familie geschrieben. Ich habe in Paris Fotos geklickt.

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