Auch im Hochwaldstübchen war der Geräuschpegel seit einigen Tagen um ein Mehrfaches angestiegen. Die Gäste, die in der Gemeinde Forstenau den Tourismus belebten, zogen in Anbetracht der dunklen Wolken, deren Ursache sie nicht einschätzen konnten, die Köpfe ein, als befürchteten sie, ein Unwetter wolle mit aller Vehemenz über sie hereinbrechen.
Einer jedoch hatte an der Ursache der Diskussionen am schwersten zu kauen. Es war Pastor Adalbert Schaeflein, über dessen breitkrempigem Hut man förmlich eine schwarze Zorneswolke wahrnehmen konnte, die den Gottesmann auf Schritt und Tritt zu begleiten schien.
Mit hochrotem und gesenktem Kopf stieg er schwer atmend die wenigen Stufen zum Hochwaldstübchen hinauf, öffnete die Tür und sogleich empfing ihn ein Schwall von Bierdunst und Zigarettenrauch.
Obwohl seit geraumer Zeit ein Rauchverbot für öffentliche Einrichtungen bestand, wovon die Gaststätten nicht ausgenommen waren, hatte man den kleineren Kneipen übergangsweise weiterhin gestattet, diese Regelung für sich zu ignorieren. Während die Besucher größerer Lokalitäten wie Restaurants und Hotelhallen ihren Lastern entweder in speziell angelegten Raucher-Räumen frönen mussten oder vor das entsprechende Anwesen verbannt wurden.
Schaeflein verfiel nahezu in einen Hustenkrampf und sein voluminöser Bauch unter der schwarzen Soutane, die er heute ausnahmsweise für den Gaststättenbesuch nicht abgelegt hatte, wippte auf und nieder und er musste seinen Hut festhalten, damit er ihm nicht vom Kopf fiele.
Während seine Augen den Gastraum abtasteten, der ihm heute irgendwie anders als sonst vorkam, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass am Stammtisch bereits zwei seiner Stammtischbrüder saßen. Sie hatten ihn offensichtlich erblickt, denn sie winkten zu ihm herüber, um sich ihm bemerkbar zu machen.
Die Tische auf der linken Seite des Raumes - es waren ihrer gerade mal fünf an der Zahl mit jeweils vier Sitzplätzen - waren ausnahmslos besetzt. Von Leuten aus dem Ort, aber auch von Personen, die derzeit ihren Urlaub in der Region verbrachten und im Hochwaldstübchen eine Kleinigkeit aßen.
Eine der Spezialitäten lockte die Gäste dabei besonders an. Es waren in einer kräftigen Gewürzsoße eingelegte Hähnchenflügel, die, in einer Fritteuse mehrere Minuten knusprig gegart, den Gaumen erfreuten und die Gäste immer wieder gerade zum Genuss dieser Köstlichkeit anlockten.
Schaeflein kämpfte sich durch den schon fast beißenden Smog hindurch zum Stammtisch, dessen Mitglied er seit Jahren war, und erkannte schließlich die vom Rauch umwölkten Personen, die sich dort niedergelassen hatten. Es waren Dieter Lauheim und Florian Glasheber, die heftig miteinander diskutierten.
Letzteren erkannte Schaeflein nicht sofort, denn der Förster hatte sich seit Neuestem einen grau melierten Vollbart wachsen lassen, der sich mit seiner vollen Dichte von dem rötlichen, runden Gesicht abhob und eine gleichfarbige Einheit mit seinem Kopfhaar bildete.
Hinter der Theke, an der sich einige Männer angestellt hatten, die keinen Sitzplatz mehr hatten erhaschen können und dort ihr Bier tranken, arbeiteten Siggi, der Wirt, und seine bessere Hälfte Lissy fieberhaft.
Siggi hatte eigentlich nur eine Aufgabe zu erfüllen. Er musste in der Küche dafür sorgen, dass die Hähnchenflügel knusprig gegart und nicht etwa zu roh waren oder gar in der Außenhaut zu trocken wurden. Genauer gesagt, er musste den richtigen Moment abpassen und dann die fertigen Teile mit einem Sieb herausfischen und abtropfen lassen, um sie auf den Tellern zu verteilen und mit zwei oder drei Scheiben Brot, je nach Größe des Laibes und einigen Papierservietten zu garnieren. Dazu gab es noch ein Erfrischungstuch zum späteren Reinigen der fettigen Finger.
Ab und zu fuhr er sich mit einem riesigen Taschentuch, dessen Zipfel aus seiner Hosentasche lugte, so dass er nur zuzugreifen brauchte, über seine feuchte Stirn und das inzwischen lichte, aber immer noch dunkle Haupthaar.
Obwohl Siggi und Lissy ihr Leben fast ausschließlich in der Gaststätte verbracht hatten und ständig auf den Beinen waren, hatten sie sich selten eine Bedienung zugelegt. Sie waren über sechzig und ihr einziges Töchterlein war auf die schiefe Bahn gekommen und hatte sich in Frankfurt den „goldenen Schuss“ gesetzt, weil es für sich keinen Ausweg mehr gesehen hatte.
Siggi hatte seine Rache gehabt und dem Schuldigen, dem Zuhälter Wilhelm Rietmaier, mit einem Sammler-Schwert schwere Wunden zugefügt. Doch Rietmaier war nicht an den Folgen dieser Verletzungen gestorben. Ermordet hatte ihn im Anschluss an seine Tat ein anderer und Siggi saß nur eine kurze Freiheitsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung ab.
Doch dann ereilte ihn ein Herzinfarkt und seit diesem Tag war er nicht mehr derselbe. Er verließ kaum noch das Hochwaldstübchen, wo er auch Mitglied des Stammtisches war. Doch wenn, gerade wie jetzt, die Bude gerammelt voll war, dann hatte er für seine Freunde keine Zeit. Dann musste er sich um das Essen kümmern. Geschäft ist nun mal Geschäft.
Lissy zapfte derweil mit hochgestecktem Haar hinter der Theke ein Glas Bier nach dem anderen, spülte zwischendurch Gläser und räumte die leeren Teller von den Tischen ihrer zufriedenen Gäste.
Obwohl sie den ganzen Abend hinter der Theke verbrachte und auch noch die Gäste bediente, blieb ihre weiße Schürze immer sauber.
Die Ursache konnte nur ein stiller Beobachter erkennen, denn Lissy wechselte die Schürze, sobald sie begann unansehnlich zu werden. Gerade diese Reinlichkeit liebten die Gäste an ihr und dass es in der Küche ebenso sauber zuging, daran zweifelte niemand.
Es war gerade mal acht Uhr abends und wäre da nicht dieser Stammtisch gewesen, den Lissy - geschehe was wolle - für Schaeflein und die restlichen Stammtischbrüder verteidigte, der Pastor hätte gerade noch einen Stehplatz an der Theke erhaschen können und wäre anzüglichen Fragen und den üblichen kleinen Foppereien der Runden trinkenden Männer ausgeliefert gewesen.
Nicht hilflos, beileibe nicht! Schaeflein wusste sich wohl zu wehren und in den meisten Fällen machten seine Kontrahenten bereits nach kurzer Zeit einen Rückzug aus ihren verbalen Ergüssen.
Schaeflein steuerte auf den Stammtisch zu. Dieter Lauheim und Florian Glasheber unterbrachen ihre angeregte Unterhaltung kurz durch eine grüßende Handbewegung gegenüber dem Pfarrer.
Schaeflein erkannte die Situation sofort.
Lauheim als Kulturbeauftragter des Landkreises und einer, den alles Kulturelle und Politische in seiner Umgebung interessierte, hatte Glasheber offensichtlich einiges mitzuteilen und dessen zufriedener Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass er sich kaum zu Wort meldete, bewies dem Pastor, dass der Wolf sein Opfer gefunden hatte.
Schaeflein wählte den Platz neben Lauheim, obwohl die Sitzordnung des Stammtisches einem festen Ritual unterlag und sein offizieller Platz einen freien Stuhl zwischen ihm und Lauheim hätte belassen müssen.
Aber auch er war gespannt auf das, was Lauheim zu berichten hatte. Nicht, dass es für ihn etwas völlig Neues sein würde, was er hier und heute zu erfahren imstande war, beileibe nicht. Er wusste schon, was neuerdings in der Gemeinde die Gemüter bewegte, doch hoffte er, dass sich am Stammtisch dieses Bild abrunden würde.
„Was sagen Sie dazu, Herr Pfarrer?“
Lauheim drehte sich zu dem Geistlichen, wobei er mit seinem Stuhl etwas vom Tisch abrücken musste, um seinem stattlichen Bauch den erforderlichen Platz zu gewähren und beendete damit abrupt das Gespräch mit Glasheber, der sich nun seinerseits nach vorne über den Tisch beugen und den Kopf näher an die beiden bringen musste, in der Erwartung, noch einmal das anzuhören, was ihm Lauheim in den vergangenen Minuten groß und breit erläutert hatte.
Glasheber, seines Zeichens Förster in der Gemeinde, teilte sich seine beruflichen Aufgaben mit seinem Kollegen Uwe Marek, jedoch so, dass sich die beiden nicht ins Gehege kamen. Zu unterschiedlich waren ihre Ressorts und die Vielfalt des Hunsrücker Hochwalds nahm ihnen beiden die Möglichkeit, irgendeinem Kompetenzgerangel ausgesetzt zu sein.
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