Ruckartig blickt Chris von seinem Becher auf und sieht mich grimmig an. „Und das wolltest du mir verschweigen?“
„Nein, natürlich nicht“, entgegne ich schnell und strecke die Hand nach seinem Unterarm aus. Seine Haut fühlt sich fast so warm wie die Tasse an. „Ich bin nur darüber hinweggekommen, nach unserem Gespräch gestern. Aber das ist der Grund, warum ich gestern Abend nicht mehr ins Booh gegangen bin… Einer der Gründe… Ich wollte sie nicht zu euch führen, falls es wirklich Verfolger waren.“
Chris´ Miene wird wieder sanfter und er nickt verständnisvoll. „Hast du ihre Gesichter gesehen? Oder das Kennzeichen?“
„Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, der Wagen hatte verdunkelte Scheiben. Aber ich habe mir das Kennzeichen gemerkt.“
„Gut“, antwortet Chris und wirkt erleichtert. „Wir sollten Daniel Stahl bitten, das Kennzeichen zu überprüfen. Ich will wissen, wer das war.“
„Ob es dieselben waren, die gerade eben noch um unser Haus geschlichen sind?“
Er zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber es wäre schon ein seltsamer Zufall, wenn es nicht so wäre.“
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube nicke ich. „Was sind das wohl für Leute? Und was wollen sie?“, grüble ich laut vor mich hin.
„Nach dem, was ich gewittert habe, sind es keine Jugendlichen mehr. Sie rochen wie gestandene Männer. Der Geruch von einem Neuwagen haftete an ihnen, und dann das teure Parfum. Um Geld schien es dabei nicht zu gehen, ich glaube nicht, dass es Diebe waren, die ihr nächstes Objekt ausspionieren wollten.“
„Aber du hast auch Neid gewittert. Vielleicht waren es doch Diebe. Reiche Diebe“, gebe ich zu bedenken.
Chris kräuselt die Lippen und legt den Kopf schief. „Es war eher so eine Mischung aus Missgunst, weniger materieller Neid. Da war auch zu wenig Adrenalin für Kriminelle. Aber ganz ausschließen kann ich es natürlich nicht.“
Der Gedanke, dass jemand um unser Haus herumschleicht mit der Absicht, uns eventuell auszurauben, verstärkt das ungute Gefühl in meinem Bauch nur noch mehr. „Ich werde einen Schutzkreis ziehen. Auch wenn es nur Menschen sind. Ich will nicht, dass hier jemand einsteigt, während wir schlafen!“
„Es gibt auch nicht-magische Wege, um sich vor Einbrecher zu schützen“, wendet er schmunzelnd ein.
„Ja, Alarmanlagen und sowas.“ Ich werfe die Hände in die Luft. „Das ist viel zu wenig und auch zu unsicher. Ich werde einen Schutzkreis ziehen, den nur magische Wesen betreten können!“
Chris wischt sich über die Stirn. „Puh, da bin ich aber erleichtert. Ich dachte schon, du wolltest jeden, der die magische Grenze übertritt, in Flammen aufgehen lassen!“
„Das wäre auch eine gute Idee!“
Nachdem wir unseren Kakao getrunken haben, checke ich die unmittelbare Umgebung noch einmal mithilfe der Elemente auf Eindringlinge. Wir sind allein, zum Glück. Im Wald ist niemand, außer den üblichen Tieren und Geistwesen. Doch trotzdem kann ich nicht mehr einschlafen. Meine Gedanken überschlagen sich, ich denke an die Zutaten für den Schutzkreis und frage mich, ob ich alles im Hause habe. Dann kommen mir wieder Elvira und Mama in den Sinn, dessen Abreise nun bereits einen Tag näher gerückt ist. Das Reisebüro, mein Parapsychologen-Büro und der Hexenladen. Chris, der tatsächlich sein Elternhaus als Sicherheit für einen Kredit benutzen will. Die Verfolger im schwarzen Wagen, die Männer, die um unser Haus schlichen.
Ruckartig setze ich mich wieder auf und werfe die Beine aus dem Bett. Chris ächzt und dreht sich um. Ich flüstere ihm beruhigende Worte zu, ziehe meinen Bademantel über und gehe auf Zehenspitzen nach unten. Ich möchte ihn wirklich nicht wecken, es reicht, wenn einer von uns keinen Schlaf bekommt.
Unten angekommen, husche ich ins Arbeitszimmer und knipse die Messinglampe auf dem Schreibtisch an. Der beruhigende Geruch getrockneter Kräuter, Pergament und Möbelpolitur umfängt mich. Ich setze mich auf den Bürostuhl und ziehe einen der Stapel mit Hexenbüchern heran. Ich suche nach einem ganz bestimmten Buch, einem, dass mein Ich aus einer anderen Zukunftsdimension mir hinterlassen hat. Es handelt von Schutzzaubern, Fluchtafeln und Bannsprüchen. Ich entdecke es unter dem dicken Wälzer der von Heilkräutern und Tinkturen handelt und ziehe es hervor. Es ist ein kleines Buch, nicht sehr dick und auch nicht besonders gut erhalten. Die Seiten sind so dünn und brüchig wie Schmetterlingsflügel, doch die Schrift kann man noch entziffern. Vorsichtig blättere ich zu den Seiten auf denen die Schutzzauber beginnen. Die ersten Zauber sind vor allem gegen magische Wesen wirksam. Es gibt welche, die insbesondere Werwölfe, Vampire und Dämonen abhalten sollen. Ein anderer Zauber ist dafür gedacht, um auch Geistwesen von einem Gebiet fernzuhalten, sei es nun zu ihrem eigenen Schutz, oder weil man in seinem Tun nicht von ihnen gestört werden will. Dann endlich komme ich zu den Sprüchen, die sich gegen Menschen richten, magische Wesen aber außer Acht lassen. Zu Zeiten der Hexenverfolgung hatten diese Zauber Hochkonjunktur. Der erste Schutzzauber lässt den Menschen einfach umkehren, ohne dass er dabei bemerkt, dass er sich eigentlich in eine andere Richtung bewegt. Dazu muss man einen Knick in der Dimension herbeiführen, doch das traue ich mir ohne Robertas Hilfe noch nicht zu. Der nächste Schutzzauber ist zu brutal, dort gehen die Eindringlinge wirklich wahrhaftig in Flammen auf, sobald sie den Schutzkreis durchbrechen. Ich brauche etwas einfacheres, etwas, das niemandem groß Schaden zufügt, uns aber trotzdem ungebetene Gäste fernhält. Dann ein paar Seiten weiter werde ich endlich fündig: „ Schutzzauber des Vergessens “.
Ich überfliege die Seite und nicke zufrieden. „ Lässt Menschen beim Näherkommen das eigentliche Vorhaben vergessen. Legt Tarnschleier über das Gebiet, macht es für Menschen unauffindbar - Das ist es“, murmle ich in die Stille des Arbeitszimmers. „Samen des Wurmfarnes, getrocknetes Benediktenkraut, Asche eines Ungeborenen und vier Rohdiamanten.“
Langsam lege ich das brüchige Büchlein zurück auf den Schreibtisch und blicke ins Leere. Asche eines Ungeborenen, das ist wirklich grenzwertig. Aber vier Rohdiamanten, das ist doch glatt unmöglich!
Doch plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich ziehe das Buch wieder heran. Dort steht nichts davon, dass man die Diamanten nicht auch selbst herstellen darf. Ein kleines Lächeln formt sich auf meinen Lippen. Diese Zutat ist also kein Problem mehr, genau wie die Samen und Kräuter. Fehlt nur noch die Asche eines Ungeborenen.
Roberta kann ich nicht danach fragen, da es sich bei diesem Schutzzauber um dunkle Magie handelt, mit der sie, als weiße Hexenkönigin, nichts zu tun haben will.
Einer meiner allerersten Zauber war ein Bannspruch, bei dem auch Asche benutzt wurde. Damals war Elvira verschwunden und hatte mir ein Buch mit Zaubersprüchen und so weiter hinterlassen, zu dem auch eine kleine Kulturtasche mit mehreren kleinen Fläschchen gehörte, unter denen sich auch Gefäße mit kleinen Mengen Asche Verstorbener befanden.
Mit fahrigen Fingern reiße ich eine Schublade nach der anderen an den Seiten des Schreibtisches auf, auf der Suche nach eben dieser Kulturtasche. Weit hinten, in einer der untersten Schubladen, entdecke ich sie schließlich, hinter einem Sammelsurium aus Kugelschreibern, Edelsteinen, Scheren und Kräuterbeuteln. Ich ziehe sie heraus und kippe ihren Inhalt über dem Hexenbuch aus.
„Vampirblut, Blut einer Jungfrau, Asche einer Jungfrau, Asche eines Heiligen, gemahlene Biberzähne…“, lese ich von den Etiketten der bunten Fläschchen ab und schiebe diejenigen zur Seite, die nicht infrage kommen. „Geraspeltes Bockshorn, getrockneter Friedhofsklee, pulverisierte Zähne (menschlich), Fötus-Asche, ägyptische Mumie gemahlen… Moment mal.“ Ich hole die vorletzte Flasche wieder heran und halte sie dichter an die Schreibtischlampe. Fötus-Asche - Das müsste genau das sein, wonach ich suche!
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