Ich drehe mich zu den beiden um und der Mann, offenbar Benny, zieht scharf die Luft ein, als er mein Gesicht erblickt.
„Wie schon gesagt, ich bin sofort wieder verschwunden“, sage ich nun schon zum dritten Mal und ignoriere dabei die Reaktion des Mannes auf den Anblick meiner tiefen Narbe.
Als ich ein weiteres Mal nach draußen blicke, ist der Wagen verschwunden.
„Sehen Sie, schon bin ich wieder weg!“, sage ich, drücke die Klinke herunter, woraufhin die Glocke wieder bimmelt.
Ich husche hinaus, zurück in den Regen und blicke die Straße hinunter. Der schwarze Wagen fährt im Schritttempo ohne Licht rund hundert Meter vor mir. Die hinteren Scheiben sind schwarz getönt, wie ich nun erkenne, sodass ich nicht sehen kann, wer oder wie viele sich darin befinden. Die Bremslichter leuchten auf und ich gehe in normalem Tempo den Bürgersteig entlang auf ihn zu. Das Messer in meiner Tasche drückt sich beruhigend gegen meinen Oberschenkel und verleiht meinen Schritten mehr Festigkeit, während ich weiterhin so tue, als hätte ich meinen Verfolger nicht ohne Unterbrechung im Blick.
Als uns noch rund zwanzig Meter trennen und mein Herz mir bereits bis zum Halse schlägt, fährt der Wagen weiter. Ich versuche mir noch schnell sein Kennzeichen und das Modell einzuprägen, doch da weder Marke noch Typ auf dem Wagen stehen, kann ich mir nur die Form merken. Nach wenigen Metern biegt er ab und ist aus meinem Sichtfeld verschwunden.
Ich überlege, nun doch noch zum Booh zu gehen, entscheide mich aber schließlich dagegen. Stattdessen nehme ich Abkürzungen querfeldein, die nur ein Ortsansässiger kennen kann und gelange so nach wenigen Minuten zum Wald. Im Schutz der fast blattlosen Baumkronen ist der Regen weniger schlimm. Ich nehme meine Kapuze vom Kopf und renne den Weg zu Chris´ Anwesen.
Sobald ich im Haus bin und mich meiner nassen Sachen entledigt habe, schreibe ich Chris eine SMS. Er ist mit ein paar Teammitgliedern im Booh und rechnet damit, dass ich nach meinem Treffen mit Elvira nachkomme.
Bin schon Zuhause. Nehme jetzt erstmal ein Bad, bin total durchgefroren. Bis später, liebe dich!
Von dem Verfolger sage ich nichts, da Chris sich sonst nur unnötig Sorgen machen würde. Es reicht auch, wenn er davon erfährt, sobald er Zuhause ist. Wahrscheinlich war es eh nur ein Ortsfremder, der nach einer Adresse suchte. Aber dennoch, Vorsicht ist besser als Nachsicht.
Ich lasse mir Badewasser ein, während das Gespräch mit Elvira sich in meinen Gedanken immer wieder abspielt. So wirklich ist die ganze Tragweite ihrer Ankündigung noch nicht zu mir durchgedrungen. Ich werde sie nicht mehr einfach so besuchen können. Auch Mama werde ich nicht mehr sehen können, außer ich setze mich ins Auto und fahre ein paar Stunden. Spontan bei Elvira vorbeikommen, um sie nach Rat zu fragen, ist dann nicht mehr möglich. Bin ich überhaupt schon bereit, das Parapsychologen-Büro ganz allein zu führen? Es rufen noch so viele Kunden an und verlangen explizit nach Elvira, weil sie ihnen früher schon einmal geholfen hat und sie ihr vertrauen. Sie hat zwar seit Mamas Erwachen an keinem Fall mehr mitgearbeitet, aber ich bin so oft zu ihr hochgegangen, um sie nach alten Fällen zu befragen.
War das vielleicht ein Fehler? Habe ich sie, obwohl sie sich von dem Business distanzieren wollte, zu sehr involviert? Trage ich einen Teil dazu bei, dass sie nun die Flucht antritt?
Und was ist mit dem Büro? Soll ich wirklich alle Akten in Chris´ Arbeitszimmer bringen und von nun an dort alles managen? Ich fand es eigentlich immer gut so wie es war. Wenn ich die Tür vom Reisebüro hinter mir schloss, konnte ich auch einen Teil der Sorgen und Aufgaben dahinter verschließen und hatte so etwas mehr Abstand. Wenn das Büro sich aber in Chris´ Arbeitszimmer befindet und ich das Telefon ständig klingeln höre, dann habe ich sicherlich niemals Feierabend!
Das Wasser in der Badewanne ist nur noch lauwarm und auch der meiste Schaum ist verschwunden, weswegen ich widerwillig aussteige und mich schnell in meinen Plüsch-Bademantel hülle. Meine Beine sind durch die Wärme ganz rot geworden und es geht mir schon etwas besser, wenn sich auch die Gedanken an Elvira und Mama wie Eiswürfel in meinem Bauch anfühlen.
Ich gehe ins Schlafzimmer und lege mich unter die dicken Daunendecken, wo ich mir ein Buch nehme und versuche, mich etwas abzulenken, bis Chris vom Booh zurückkommt. Draußen tobt der Wind in den Baumwipfeln und huscht jaulend ums Haus herum. Die Spitzen der hohen Tannen biegen sich bedrohlich hin und her, während der Regen in dicken Tropfen gegen die Scheibe prasselt.
Ich sitze im Bett, das Buch geöffnet auf meinem Schoß und kann an nichts anderes denken, als an den baldigen Verlust von zwei der wichtigsten Frauen in meinem Leben. Ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben, sackt irgendwann mein Kopf gegen die Rückenlehne des Bettes und das monotone Prasseln des Regens geleitet mich in einen traumlosen Halbschlaf.
„Scarlett“, weckt mich die warme, raue Stimme von Chris nach unbestimmter Zeit.
Ich blinzle und schaue verschlafen in sein vom warmen Licht der Nachttischlampe beschienenes Gesicht. „Hey, da bist du ja.“ Ich strecke mich, während Chris seine Lippen auf meine Wange drückt. „Wie spät ist es?“
„Kurz nach elf“, antwortet er und streicht mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Wir haben dich im Booh vermisst. Jason, Kitty, Naomi und Fletcher waren da. Sie hatten alle Pläne, Zeichnungen und Strategien für den Laden mitgebracht, die sie dir zeigen wollten.“
Ich setze mich auf und gebe einen Seufzer von mir, als die harte Realität wieder auf mich einprasselt. „Ach, Chris…“. Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll und schüttle mit dem Kopf.
„Was ist los?“, will er sofort wissen und setzt sich im Schneidersitz neben mich auf die Bettdecke.
„Elvira und Mama wollen an die Küste ziehen und das Reisebüro und Elviras Wohnung verkaufen. Sie war schon bei einem Makler und Ende dieser Woche sind sie bereits weg!“, sprudelt es dann plötzlich aus mir heraus.
Chris sieht mich mit großen Augen an. Sein Mund klappt auf, dann wieder zu. Er schluckt. „Ende dieser Woche schon?“
„Ja!“ Ich schlage mit den Händen auf die Bettdecke. „Sie planen es schon länger, wollten mich aber erst einweihen, wenn es sicher ist.“
„War Ella auch dabei?“
Ich schüttle mit dem Kopf und spüre, wie mir wieder Tränen in die Augen steigen. „Nein, sie war nicht dabei. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass ich sie verhexen könnte, sie in Stein verwandeln würde, oder sowas, damit sie nicht umzieht.“
Chris sieht mich mitfühlend an und streicht beruhigend über meinen Oberarm. „Das hat sie sicherlich nicht gedacht.“
„Oh doch, bestimmt hat sie das! Sie kann ja noch nicht einmal mit mir über das Wetter sprechen, ohne Angst zu haben!“
Wir schweigen einen Moment und Chris gibt mir Zeit, mich wieder zu sammeln. Nach einer Weile sehe ich ihn an.
„Das Büro wird auch verkauft. Elvira meint, ich könnte es in dein Arbeitszimmer verlegen, aber das will ich nicht.“
Er zieht die Augenbrauen zusammen. „Wieso nicht? Es ist ebenso dein Arbeitszimmer, und wenn du es als Parapsychologen-Büro nutzen willst, dann kannst du das tun.“
Vor meinem inneren Auge sehe ich das Arbeitszimmer, das eh schon mit meinen Kräutern, Edelsteinen, Tinkturen und Pülverchen vollgestopft ist. Wenn ich dort nun auch noch all die Ordner und Unterlagen aus dem Büro, sowie den Computer und all die Masken und Reliquien von den Wänden reinquetsche, ist dort kaum noch Platz zum Durchlaufen.
„Nein, das möchte ich nicht“, sage ich und schüttle mit dem Kopf. „Allein der Gedanke, dass dort dann ewig das Telefon klingelt…“ Ich schlage die Hand vor mein Gesicht und reibe meine Stirn.
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