»Wie denn so was?« – Oie fixierte Nussbaum hellwach und dachte an den Anstrich auf Antonows Liste.
»Aufklärung. – Das hieß offiziell so, war aber der Bereich Aufklärung der NVA – des Militär-Geheimdienstes. Mit dem Ende der DDR hieß die Organisation Militäraufklärung der NVA.«
»Was hatte ein Militär-Geheimdienst mit ihrem Mathematik-Studium zu tun, wie kann man das verstehen – und was ist Kryptologie, wobei ich was ahne, denn meine Frau redet von kryptischen Rätseln, wenn sie mich nicht versteht.«
»So ungefähr, aber exakt: Kryptologie. – Kryptologie ist, vereinfacht gesagt, alles, was man an mathematischen und algorithmischen Verfahren für die Informationssicherheit einsetzen kann – um Codes zu entwickeln und Codes zu knacken. Das wird in Staaten, Unternehmenund bei Geheimdiensten gebraucht, – sonst bliebe in der Kommunikation wenig geheim, würde ich mal sagen. Dafür brauchten die damals frische Leute mit einem unbefangenen, schrägen Blick. Das war die Lage. Studieren. – Zweimal auf Staatskosten studieren ging nicht so einfach, außer bei besonders exotischen Begabungen, von denen man sich was versprach, oder an den Nahtstellen zwischen den Disziplinen, wie zum Beispiel angrenzend zur Mathematik.
Mathe-Exot. – So ein Mathe-Exot war ich wohl.«
Oie hakte ein: »Und was war nun das Besondere?«
Nussbaum rieb sich den nicht vorhandenen Bart: »Na ja, das habe ich eben schon angedeutet – ich ticke ein bisschen anders. Schon als Kind konnte ich ganze Märchenbücher speichern und Wort für Wort aufsagen.«
»Ist ja erstaunlich«, war Oie beeindruckt.
»Noten. – Beim Musizieren habe ich keine Noten gebraucht. – Nur einmal, danach habe ich sie vor meinem geistigen Auge gesehen, auch komplizierteste Partituren, wie beim Studium des Dirigats. Nur genutzt hat es mir, wie gesagt, nichts.
Die Mathematik – und später das Militär – waren dann auch gesundheitlich mein Glück, denn ich brauche klar strukturierte, relativ ungestörte Tagesabläufe – sonst bekomme ich Probleme.
Mit dem Eintauchen in die Mathematik habe ich dabei diese exotische Fähigkeit bemerkt – besser, meine Lehrer haben sie bemerkt – nicht nur rezipierend, sondern auch konstruktiv zu agieren, grafische Ordnungen der Bilder und Zahlen zu fokussieren, gleichzeitig zu speichern und damit zu arbeiten.«
»Bitte was?«, rätselte Oie.
»Beziehungen. – Das heißt, aus großen Mengen von Zahlenkombinationen, Buchstaben oder Bildern die Verwandtschaft und die hintergründigen Beziehungen zu erkennen. Ein Beispiel, das ich immer für Laien gebe: Hühnerhof. – Ein Blick von oben auf einen großen Hühnerhof mit Hunderten eng stehender, pickender Hühner. Dazwischen schwarze und weiße Kaninchen – einzeln oder paarweise.
Ein optischer Schuss, und ich kann nachzählen und aufschreiben, wie viel schwarze und weiße Kaninchen in welcher Kombination zusammenstehen – und aufzeichnen, wie sie verteilt sind.«
Oie machte große Augen und sagte nichts – es war zu spannend.
»Picken. – Oder eine andere, parallel laufende oder nachträgliche Fokussierung auf die Hühner: Welche picken schnell, weil sie hungrig sind, welche picken langsam, weil sie satt sind – und welche picken gar nicht?
Oder parallel die Bewegungstendenzen im Schwarm und so weiter. Das Gleiche auf Abruf oder zeitgleich mit den Kaninchen.«
»Ist ja toll«, wunderte Oie sich, »wie das? – Ist das genetisch oder erlernbar?«
»Verdrahtung. – Weiß ich nicht genau, aber ich bin hier oben« – und Nussbaum fasste sich mit gespreizten Fingern über den Kopf – »irgendwie anders verdrahtet. Auch gut trainiert seit meiner Kindheit durch unsere Eltern, die von früh an mit uns musiziert und gespielt haben – vor allem Schach und Bilderrätsel.
Bruder. – Mein Bruder Johannes, der die gleiche Erziehung erfahren hat, ist auch sehr musikalisch – in der Mathematik ist er allerdings ganz normal.«
Oie war sprachlos. Nussbaum, der so was kannte, versuchte lockend abzulenken: »Kaffee? – Ich will uns erst mal einen Kaffee machen, Sie trinken doch Kaffee?«
Oie war leidenschaftlicher Kaffeetrinker und hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendetwas fehlte zu seinem Glück, über Igor Antonow, gleich zum Auftakt seiner Suche, so einen interessanten Menschenzu treffen.
»Türkisch, arabisch, schwedisch, holländisch oder einen Pharisäer? – Ist kein Problem!«
Als Oie zweifelnd schaute, lockte Nussbaum: »Lust-Zeit ist das. – Die neue Zeit, – immer Aussicht auf Lustgewinn und die Qual der Wahl. Aber macht uns die Wahlfreiheit zwischen zwölf Kaffee-Spezialitäten reicher – als Mensch?«
»Nö«, wiegelte Oie ab, »aber in der Aussicht irgendwie glücklicher!« Nussbaum lächelte freundlich auffordernd: »Was iss’n nu?«
»Ich lass mich überraschen!«
Herr Nussbaum ging in die Küche. Gewisse Parallelen gab es da schon, stellte Oie für sich fest. Zweimal studiert hatte auch er. Erst an der Technischen Hochschule. Dann, nach einigen Jahren als Projekt-Ingenieur in der Industrie und ausgiebigen Übungen im Zirkel des renommierten Berliner Malers Wolfgang Leber,wurde er als geeignet befunden, an der Kunsthochschule Gestaltung zu studieren.
Die damals regierenden Professoren wollten bildnerisch begabte, musische und erfahrene Leute, die etwas von Produktion und Technik verstanden, weil die Haupt-Ausrede in Sachen Design-Qualität in den Betrieben der Planwirtschaft nicht die Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft war – denn die war ja offiziell perfekt, und also Kritik-Tabu – sondern: Das stört die auf Kante genähte Planerfüllung und das können wir technisch nicht, – aus diesen oder jenen vorgeschobenen Gründen.
Man musste also in der verordneten Mangel-Wirtschaft mit solidem technischem Hintergrund improvisieren können, wenn man da, wo alles vorgeplant war, etwas voranbringen wollte, – besonders in der Gestaltung.
Deshalb der Leitspruch der Fakultät: Für wirklich Neues gibt es keine Vorschriften! Das sollte den Gestaltern Mut machen, neue Wege zu gehen. Einige der zehn Studenten pro Jahrgang schafften es dann auch, später so zu arbeiten.
Aus der Küche rasselte, dampfte und roch es verführerisch bis ins Zimmer. Betörendes Kaffee-Aroma schwebte in Oies Nase – vor dem Fenster ließ eine Windböe die Farben des Gartens wogen – und sein toter Schulfreund Daisy kam ihm in den Sinn.
Gerade in diesem Augenblick, beim Auftritt der schillernden Persönlichkeit Nussbaums umgeben von Kaffee-Gerüchen, dachte er an Daisy, den sie in den letzten Schneewehen des Winters auf dem Waldfriedhof am Olympiastadion zu Grabe getragen hatten.
Sein Freund hatte sie damals, vor dem Mauerbau, in die so andere Glitzerwelt des Westens eingeführt, die gleich am S-Bahnhof Gesundbrunnen begann, da wo Hertha BSC an der Plumpe zu Hause war, und sie die amtierenden Radio-Fußballgötter in den Schaukästen am Stadion bewundern konnten.
Dieser Geruch der Kaffee-Röstereien seiner Kindheit war es wohl, der ihn jetzt an Daisy erinnerte, denn den hatte er zum ersten Mal in diesem messingpolierten Kaffee-Geschäft am S-Bahnhof wahrgenommen, in dem sich Daisy, wuselnd wie ein Pfadfinder, auskannte und in dem immer mal bunte Kaugummi oder Sahne-Bonbons geschnorrt werden konnten.
Der so anders duftende Leuchtreklame-Westen Berlins, der an jeder Ecke nach Südfrüchten, Geräuchertem, Bratwurst und Parfüm roch, hatte bei ihm eine sinnliche Spur bis in die Gegenwart hinterlassen, die sich mit lustvollen Bildern der Kindheit verband, denn selbst den aromatischen Abgasen der schicken, chromblitzenden amerikanischen Straßenkreutzer schnüffelten sie damals nach, wie junge Hunde. Bis ins Grenz-Kino – für zwanzig Pfennig Ost auf Schülerausweis – wo die neuesten Micky-Mouse-Filme und Western liefen, in denen das Gute noch klar auf die Stirn der Helden geschrieben war.
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