„So schnell geht das alles.“ beginnt der junge Syrer nachdenklich. „Gestern war Kalli noch da, jetzt ist seine Asche schon in der Erde. Der Tod ist jedes Mal etwas Niederschmetterndes, findest Du nicht auch?“
Ich sehe Sharif an: „Er begleitet uns sekündlich. Vom ersten Moment unseres Lebens an. Eigentlich verwunderlich, dass er einen immer wieder überrascht.“
Sharifs Blick ist leer und er scheint gerade nicht wirklich auf etwas zu schauen:
„Anderenorts sterben täglich Menschen. Niemand ist dort mehr überrascht. Das Sterben ist dafür viel zu sehr Alltag geworden, gefühllose Routine. Doch man stirbt dort nicht in Frieden, es ereilt die Menschen kein natürlicher Tod. Sie werden ermordet, nachdem sie verfolgt und gequält, vergewaltigt und gefoltert wurden. Diese Toten besingt man anders. Der Herztod eines alten Mannes tut weh, weil ein Teil von Dir nach einem langen Leben gegangen ist. Aber ermordete Brüder und Schwestern, Väter und Mütter, denen niemand hilft, während sie von fanatischen Mörderhorden dahingeschlachtet werden? Das reißt Dir Dein Herz heraus, Deine Gedärme. Dein Verstand wird Dir geraubt. Und Du möchtest am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Erst Recht, wenn Du nicht helfen kannst, weil Dich tausende Kilometer trennen.“ Sharif laufen Tränen über sein junges Gesicht und seine Verzweiflung ist unübersehbar.
Ich will meinen Arm über seine Schulter legen und etwas Sinnreiches antworten, doch er steht auf und wendet sich zum Gehen.
„Niemand hier hat auch nur die geringste Ahnung, was in meinem Land gerade passiert.“ ruft er. „Und meine Familie, meine Freunde – alle sind wir Christen, haben nie jemandem etwas getan. Die Welt sitzt derweil am Fernseher und schaut in den Nachrichten, wie die schwarzen Flaggen wehen. Dann kommt ein wenig Mitleid auf. Und die Politiker? Sie verstecken sich hinter ein paar Hilfsgeldern, hinter Verhandlungen mit Schurken, die die Schurken von gestern nur abgelöst haben. Und das Abschlachten ganzer Völker geht unbeirrt weiter.“
Ich sehe ihn an. So hatte ich ihn bisher noch nicht erlebt. Leidenschaftlich, zugleich voller Angst. Und er hat Recht. Ich kann ihm das nicht in Abrede stellen und ich fühlte mich plötzlich völlig hilflos und leer.
Ich würde jetzt gerne wissen, wie es seiner Familie geht, sind auch sie betroffen, hat er Kontakt? Doch Sharif ist aufgestanden und bereits die Treppe hinauf verschwunden, ohne, dass er noch etwas geantwortet hat.
Ich folge ihm mit schweren Schritten und seine Worte klingen in meinen Ohren. Ich werde nicht gleich einschlafen können und so drehe ich mich und meine Gedanken kreisen.
Mit einer Tasse Kaffee in der Hand zum Frühstück gehe ich zur Wohnung von Kalli. Die Türe ist nur angelehnt und ich öffne sie einen kleinen Spalt. Drinnen, im Flur, stehen Fredo und Fritz. Julius und Ruprecht sind bereits an den Regalen im Wohnzimmer beschäftigt. Während ich noch in der Türe stehe, kommt Willi hinter mir die Treppe herunter.
„Kommt herein“, ruft Julius fast beiläufig uns Neuankömmlingen zu und wendet sich sofort wieder seiner Arbeit zu. Wir drei stehen ein wenig unentschlossen herum und wissen nicht, was wir hier nun eigentlich sollen.
Julius schaut uns freundlich an: „Ihr wolltet Euch umschauen. Bitte, tut Euch keinen Zwang an.“ Geschäftig macht er weiter. „Ich denke, dass ich das meiste wohl abholen lassen werde. Aber die paar Bilder, Fotos und die persönlichen Unterlagen möchte ich auf jeden Fall behalten.“
Ich gehe nun auch in das Wohnzimmer, in dem ich zuvor bisher nur einmal gewesen bin und das ist schon länger her. Es ist ein kleines Zimmer, mit einem hölzernen Couchtisch, einem etwas zu wuchtigen Sessel mit dazugehörigem Sofa und einem ledernen Fernsehsessel. Ein hellbraunes Ungetüm mit deutlichen Abnutzungserscheinungen. Den Rest des Raumes füllt eine Regalwand mit vielen Fächern, in denen der alte Mann seine Bücher aufbewahrte. Ich gehe näher und schaue mir die Literatur etwas näher an. Da sehe ich Dostojewski, Remarque, Mann, Stifter, Strindberg und Zola. Ich bin fasziniert.
„Julius!“ ich drehe mich um und bin etwas aufgeregt. „Julius, hier stehen wirklich schöne Bücher.“
„Du kannst sie alle haben.“ Julius kramt direkt unter mir in den Schubladen der Regalwand und holt verschiedene Aktenordner hervor. Ich nehme einen in Leder gebundenen Roman von Oscar Wilde in die Hand, `Das Bildnis des Dorian Gray´.
„Du musst diese Bücher unbedingt selbst behalten. Und vor allem lesen!“ flehe ich Julius fast an.
„Nehme Du sie gern an Dich. Ich habe keinen Platz.“ Julius scheint wirklich kein Interesse daran zu haben.
Ich zögere. Bücher muss man doch behalten, man entsorgt sie nicht, ebenso wenig, wie man sie verbrennt oder einfach achtlos in den Mülleimer wirft. Bei einem meiner letzten Einsätze in der Papierfabrik schuftete ich gerade auf dem Rohstoffhof und kehrte die Reste von beschädigten Altpapierballen zusammen, als ein Kleinlaster vorfuhr. Er kippte eine ganze Ladung Bücher direkt vor meine Füße. Auf der Plane des Lasters stand `Wohnungsauflösungen´ und sie schütteten die Bücher eines wohl gerade Verstorbenen, vielleicht war er Professor, Schriftsteller oder Lehrers, einfach so in den Dreck. Nach dem Wiegeprotokoll erhielten Sie ein paar Euros und das war`s.
An jenem Tag verbrachte ich meine Mittagspause damit, in dem Bücherhaufen herumzustöbern und zu retten, was noch rettbar war. Viele der Werke waren bereits stark durchnässt und unbrauchbar. Aber ich fand Tolstoi, Dickens, Poe und Stoker. Der Hofmeister der Fabrik zeigte mir den Vogel, genehmigte mir aber, drei große Kartons mit Büchern an die Seite zu bringen, die ich am Abend dann wie einen Schatz mit nach Hause nahm. Ich blätterte bis tief in die Nacht in meinen literarischen Juwelen, las in deren Einbänden Widmungen zum Geburtstag, 1948, zur Konfirmation, zum bestandenen Abitur, studierte die mit Bleistift notierten Anmerkungen, Hinweise und interpretierte die unkommentierten Unterstreichungen von Textstellen oder die Ausrufungs- und Fragezeichen am Blattrand, die jemand dort einmal hinterlassen hat.
Diese Bücher wurden offensichtlich lebendig gehalten, sie dienten ihrem Besitzer als Quelle von Wissen und Erbauung. Die Autoren hatten ihren Leser gepackt, verwundert, überzeugt oder zum Nachdenken gebracht. Diese Bücher wurden immer wieder herausgeholt, gelesen, bearbeitet und mit Zugewinn zurückgestellt. Bis zum nächsten Mal. Bis zum nächsten Akt. Bis zur nächsten Erkenntnis. Diese Bücher haben ihren Besitzer sein Leben lang begleitet. Dienten ihm zur Entspannung, bei Krankheit zur Zerstreuung, in der Trauer zur Erlösung.
Ich starte einen letzten Versuch: „Julius, Du bist dabei ein intellektuelles Schwerverbrechen zu begehen. Möchtest Du ins Gefängnis der Dummen und Ahnungslosen kommen?“ Ich lächle zwar, mein vorwurfsvoller Ton allerdings ist nicht nur vorgetäuscht. „Dann musst Du Deinen Knastkumpanen zur Strafe Mangas vorlesen – und natürlich erklären.“
Julius murmelt etwas und blättert weiter in den gefundenen Ordnern herum. Fredo kommt aus der Küche und vermeldet fast militärisch, dass dort weder Wertsachen noch irgendetwas Besonderes zu finden gewesen sei. Nur ein paar Töpfe, Tassen, Teller und Besteck. Auch die Lebensmittelvorräte scheinen mehr als überschaubar. Nach kurzer Zeit stellen wir alle fest, dass der Besitz von Kalli auf einen Kleintransporter passen würde und wir damit zum Recyclinghof fahren sollten.
„Komm“, fordert Fredo mich auf, „wir schauen uns mal in der Druckerei um. Vielleicht finden wir da etwas. Und wenn nicht, dann können wir die Maschine immer noch einschmelzen und Hantelgewichte aus ihr gießen.“
Fritz und Ruprecht wollen jedoch noch etwas in der Wohnung weitermachen. Also gehen Fredo und ich hinunter und betreten wenige Augenblicke später bereits schon die Druckwerkstatt.
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