Damit passt er allerdings wieder ganz vortrefflich hierher. Allein schon deshalb, weil er ein direktes Schicksals-Pendant unter uns hat. Fritz Musiol, Diplomkaufmann und ehemaliger Immobilienmakler. Im Gegensatz zu Ruprecht ist Fritz unser `kleiner Dicker´. Er steht auf dem Standpunkt, dass niemand ein Six-Pack braucht, wenn ein ganzes Fass zur Verfügung steht. Die Gürtel seiner Hosen schnüren diese auf eine Art fest, die seinen Altherrenbauch von unten her wie einen mit Wasser gefüllten, übergroßen Luftballon herausquellen lassen. Auf der Herrentoilette ist er deshalb allein auf seinen Tastsinn angewiesen.
Fritz neigt zudem zur Körpernässe und führt aus diesem Grunde immer mindestens ein größeres Stofftaschentuch mit sich. Da für ihn selbst bereits die Überwindung der ersten Hausetage eine sportliche Herausforderung darstellt, beginnt er sich schon nach wenigen Stufen die Stirn zu tupfen. Vor seiner Wohnungstüre sind dann Hals und Nacken dran. Figürlich ist Fritz somit am ehesten der Wirtschaftswunderzeiten der fünfziger Jahre zuzuordnen, was auch mit seiner eigentlichen Profession einhergehen könnte. Direkt nach seinem Studium wurde er nämlich Gewerbemakler in dieser schönen Hansestadt, in der so viel gebaut wird.
Sein Erfolg war denn auch buchstäblich. Mitglied in den vornehmsten, und verbindungsreichsten Clubs der Stadt, beste Beziehungen zu Staatsräten und Regierungsdirektoren. Gern gesehener Gast auf Veranstaltungen der besseren Gesellschaft Hamburgs. Er häufte Millionen auf. Diese allerdings verpufften bei einer Fehlspekulation in Dubai. Er verlor alles und musste Insolvenz anmelden. Dass er nicht ins Gefängnis gehen musste, konnte er befreundeten Spitzenanwälten, vor allem aber seinem Schwarzgeldkonto in der Schweiz verdanken. Er machte rechtzeitig eine Selbstanzeige und bezahlte alle Steuerschulden, seine Anwälte sowie das Minus aus seiner Fehlinvestition. Übrig blieb nichts. Somit auch keine Freunde. Mit dem Besten von ihnen zog seine Ehefrau kurzerhand nach Mallorca, unmittelbar, nachdem sie das spärliche Restguthaben des gemeinsamen Privatkontos noch geleert und dieses bis zur maximalen Kreditlinie belastet hat. Während er jetzt von der Grundsicherung lebt, verkauft nun sie als Maklerin Villen und Grundstücke auf den Balearen. Man muss den Hut ziehen.
Wie in den meisten Gemeinschaften, gibt es auch bei uns einen Draufgänger, der sich seiner Rolle mit Hingabe verschrieben hat. Bei uns ist das Fredo, in dessen Geburtsurkunde `Friedrich Dominik Weitzmann´ steht. Fredo ist vierundzwanzig Stunden durchgängig gut aufgelegt, hat immer einen passen Spruch parat und das, was in der Fauna allgemein als instinktive Scheu bezeichnet wird, ist ihm so fern, wie einem Inuit das Kokosnussöffnen. Er ist groß, kräftig und könnte es jederzeit mit einem Profiringer aufnehmen. Sein weißer Vollbart gleicht seinen mittlerweile fast kahlen Schädel mit vollendender Symmetrie aus. Fredo strahlt eine Art selbstverständliche Autorität aus, der man sich fast automatisch unterstellen möchte. Auch vermittelt er mit allen Gebärden eine ruhige Sicherheit und man fühlt sich in seiner Gesellschaft fast ein wenig geborgen. Doch wenn Fredo aber einmal ärgerlich wird, dann rette sich, wer kann.
Er wurde von seinem Vater bereits mit vierzehn als Schiffsjunge zu einer Hamburger Reederei gebracht, wo ein Bananendampfer auf ihn wartete. Mit sechsundzwanzig wurde er Schiffsoffizier und mit vierunddreißig Kapitän auf einem Containerschiff. Beim `Heiteren Berufe-Raten´ bräuchte Fredo erst gar nicht anzutreten. Sein Gang, seine Stimme und seine Sprache entlarven ihn bereits nach wenigen Sekunden. Ein Mannsbild sondergleichen, mit wuchtigem Auftritt und keckem Augenzwinkern, das besonders bei den Mädchen in den Häfen der nahen und fernen Länder Aufmerksamkeit erregt haben wird.
Irgendwann braucht aber auch der noch so sprunghafteste Seemann einen festen Hafen und Fredo heiratete. Während er auf den Weltmeeren unterwegs war, wartete sie all die Monate sehnsüchtig auf ihn. Ihre Sehnsucht war so groß, dass sie sich mit einem Pizza-Lieferanten tröstete. Aufgrund der vielen neuen Lieferservices zog es Fredo vor, hiernach nicht noch einmal zu heiraten und verschrieb sich nun ganz der Seefahrt. Er fuhr unter griechischer Flagge an die dreißig Jahre und es gab kaum ein Land, das er nicht gesehen hat. Mit der Wirtschafts- und Bankenkrise ging auch seine Reederei Konkurs. Seine Betriebsrente und Altersversorgung hatte sich damit gleichermaßen in Rauch aufgelöst. Und weiter fahren lassen sie ihn nicht mehr. Zu oft hat er dafür seinen Kummer ertränkt. Sein Patent hat sich seiner Rente angeschlossen – und hat somit nur noch Erinnerungswert.
Genau genommen, sind die meisten von uns Verlierer. Jeder hat dafür so seine eigene Geschichte, Interpretation und Rechtfertigung. Tatsache aber ist, dass wir wohl eindeutig zur Gruppe der Gestrandeten gehören, allesamt kaum in der Lage, uns über Wasser zu halten. Unser Haus scheint das irgendwie anzuziehen. Ich selbst wohne hier nun fast fünf Jahre. Die Wohnung, wenn man 34 Quadratmeter als eine solche bezeichnen kann, hat mir zwar nicht gefallen, es blieb jedoch kein anderer Ausweg. Heute bin ich froh, hier gelandet zu sein.
Die Dynamik meines Lebens ist am ehesten mit der einer Wanderdüne zu vergleichen. Etwas Spektakuläres sucht man bei mir vergebens. Ich begann früh ein Praktikum bei einem Wochenblatt und verkaufte Kleinanzeigen. Als der Verlagsinhaber nach einer Alkoholfahrt für einige Wochen im Krankenhaus lag, schrieb ich versuchsweise einige Artikel. Es war ja kein anderer da. Erstaunlicherweise kam es so plötzlich bei diesem Blättchen zu ersten wohlgemeinten Leserbriefen. Als ich dann wieder Anzeigen verkaufen sollte, erhielt ich einen Anruf von einer richtigen, großen Zeitung. Es wäre dort eine Volontärs-Stelle frei und ich sollte doch mal vorbeikommen. Kurz darauf begann ich in der Redaktion `Lokales´.
Dort blieb ich, bis zu der ersten Welle der Massenentlassungen in der Zeitungswirtschaft. Da war ich fast Mitte Fünfzig. Nach der vierhundertsten Bewerbung gab ich schließlich zu hoffen auf, irgendwie weiter als Journalist arbeiten zu können. Meine kleine Abfindung habe ich als Langzeitarbeitsloser längst aufgezehrt. Deshalb verbessere ich seit einiger Zeit meine Sozialhilfe durch Zeitarbeitseinsätze als Aushilfsarbeiter. Da ich als ungelernt gelte, liegt mein Lohn in der Größenordnung, die anderenorts am Sonntag im Klingelbeutel landet. Das Schreiben lasse ich zwar nicht ganz sein, doch es ist eher für mich selbst, für mein Selbstwertempfinden und manchmal sende ich tatsächlich auch etwas ein.
Eine schöne Truppe also, die sich hier hat ans Ufer treiben lassen. Es gibt sicher illustre Gesellschaften. Doch vielleicht ist es gerade diese Mischung, die all das, was noch geschehen soll, erst zu Stande kommen ließ. Heute jedenfalls denke ich, dass es anders nie geklappt hätte. Wenn wir zu diesem Zeitpunkt geahnt haben würden, was alles auf uns zukommen soll, hätten wir wohlmöglich anders entschieden. Aber hätten wir wirklich?
Julius ist inzwischen alkoholgeschwängert eingeschlafen und sein Kopf liegt auf Martas rechter Schulter. Gut so, denn die nächsten Tage würden bestimmt kein Zuckerlecken für ihn werden. Unter bösen Blicken von Marta zünden wir Raucher uns noch eine Zigarette an und reichen den Rest vom Kirschwasser herum. Es ist noch einmal stiller unter uns geworden. Der klare Himmel zeigt seine Sterne, und die, die wir durch den Schacht des Innenhofes sehen können, funkeln, als wäre nichts geschehen. Ich ertappe mich dabei, eine Sternschnuppe zu erhoffen. Ich weiß, was ich mir jetzt wünschen würde. Doch an diesem Abend soll ich einfach keine sehen.
Es kommt jemand durch den Hofeingang. Wir sehen, dass es Sharif ist, neben Julius der andere Jungbewohner in unserer Gemeinschaft. Wenn wir ihn ärgern wollen, nennen wir ihn kurz „Shah“. Er betont dann immer gleich, dass er Syrer und nicht Perser sei. Wir finden das zwar nicht unbedingt so weltentscheidend, aber er besteht nun einmal darauf. Mit seinem unübersehbaren orientalischen Äußeren sowie seinem Akzent könnte er ebenso gut aus dem Irak, dem Libanon oder der Türkei stammen. Sein Herz brennt natürlich für seine Heimat, einer Region, die wir vor seinem Einzug in unser Haus lediglich als eine der vielen totalitären Regime-Staaten und, seit dem arabischen Frühling in jüngster Zeit, als eines der Krisengebiete des Nahen Ostens kennen.
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