Einen Anlass für unsere Treffen benötigen wir nie, so auch an diesem Tage nicht. Ich will es aber auch nicht als Ritual bezeichnen, mehr als Gewohnheit, geboren aus dem Umstand, dass es für uns alle wenig andere Gelegenheiten der Zerstreuung und Ablenkung gibt. Denn niemand von uns kann sich mehr als das hier leisten.
Wir sind in den wenigen Jahren unseres Zusammenwohnens in diesem Haus, trotz all unserer Unterschiedlichkeiten, freundschaftlich zusammen gewachsen. Zu unserem Kreis gehören natürlich noch Kalli und Marta. Kalli betreibt, trotz seines bereits hohen Alters, in der Hofwerkstatt eine kleine Druckerei und kommt meist nie vor dem Dunkelwerden aus seinem Betrieb. Und die liebe Marta bleibt unseren Hof-Treffen ohnehin zumeist fern, denn solche sind mit ihrem Anstand als Witwe und Klavierlehrerin nicht vereinbar.
Die Uhr der alten Kirche in der nächsten Straße schlägt gerade Sieben und Julius, Kallis Sohn, kommt nach Hause. Wie immer stellt er sich kurz in unseren Kreis um danach, bevor er in seine Wohnung im vierten Stock geht, erst noch einmal kurz in der Druckerei seines Vaters vorbei zu schauen.
Doch heute sollte es anders enden, als sonst. Als Julius die Türe des kleinen Betriebes öffnet, sieht er seinen Vater regungslos auf dem Boden liegen, direkt neben der alten Druckmaschine, die sich immer noch im Leerlauf dreht. Ein Blick genügt um zu wissen, dass der Tod schon von vor ein paar Stunden gekommen war.
Julius kniet sich neben den Alten und nimmt seine Hand. Schweigsam und ganz ruhig streichelt er den kalten Handrücken des Toten und seine Tränen rollen über sein junges Gesicht herab auf den Boden. Nach ein paar Minuten legt er den Arm seines Vaters behutsam auf dessen Bauch, steht auf und verlässt die Werkstatt. Kreidebleich kommt er auf uns zu und wir wissen sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein würde.
Wir haben Kalli tagsüber nie vermisst. Er war meist die ganze Zeit über allein in seiner Druckerei und stets beschäftigt. Mal hörten wir das Rumpeln seiner Druckmaschine, dann aber gab es wieder Tage, an denen nichts von ihm zu vernehmen war. Für uns war die heutige Stille um ihn also ganz normal. Kalli kommt ja irgendwie immer wieder zum Vorschein, stellt sich noch einmal kurz zu uns oder wir hören des Späteren seine Schritte auf der Treppe, wenn er hoch zu seiner Wohnung steigt. Marta kocht ab und zu für ihn, aber auch sie bekommt ihn so manchen Tag überhaupt nicht zu Gesicht.
Jetzt stehen wir wie die begossenen Pudel in der Werkstatt und unsere Bestürzung verschlägt uns allen die Sprache. Ruprecht ist der erste unter uns, der wieder klar bei Verstand ist. Er ruft den Rettungsdienst, obwohl wir doch alle wissen, dass hier keine Rettung mehr möglich ist. Julius hat sich derweil auf einen Stuhl neben seinen toten Vater gesetzt und blickt starr auf den Leichnam. Niemand spricht ein Wort, keiner wagt in diesem Moment einen Ton herauszubringen.
Wenige Minuten später leuchtet bereits das blinkende Blaulicht durch die Hofeinfahrt und wir hören das Trampeln des herannahenden Rettungsteams. Der Notarzt schießt durch die Türe, schiebt uns unsanft beiseite, beugt sich über den alten Mann, tastet ihn ab, öffnet das Hemd und sucht nach einem vielleicht nur versteckten Herzschlag. Doch es dauert gerade ein paar Wimpernschläge, bis er sich zu uns um dreht und fast entschuldigend mit dem Kopf schüttelt. Nach seiner Meinung sei der Mann bereits fünf oder sechs Stunden nicht mehr am Leben, und so, wie es für ihn aussieht, sei er einem Herzinfarkt erlegen. Mit einem kurzen, pragmatischen Nicken gibt er das Zeichen für den Abtransport.
Kalli heißt nicht wirklich Kalli. In seinem Ausweis steht Georg Leibnitz. Am Tage seines Todes ist er gerade 74 Jahre alt, ein Alter, das Viele als zu jung zum Sterben bezeichnen. Wenn aber bedacht wird, dass er bereits im Alter von fünfzehn Jahren seinen ersten Lehrtag hatte und seither nie eine Pause gemacht hat, ist er schon ziemlich alt geworden.
Die Ironie des Schicksals hat ihn seinen letzten Atemzug dann auch noch dort machen lassen, wo er die letzten fünfzig Jahre seines Lebens geschuftet hat: in seiner kleinen Druckerei. Dort, wo er bis zuletzt versucht hat, sich gegen die moderne Welt zur Wehr zu setzen. Verdient hat er dabei kaum noch etwas. Schon lange nicht mehr.
Sein Betrieb umfasst gerade einmal hundert Quadratmeter. Mitten drin steht sein `Schätzchen´, eine alte Druckmaschine aus den sechziger Jahren. Alles, was er so für eine gute Arbeit braucht, hat er sorgsam geordnet in Regalen und Schubladen sortiert. Die alten Setzbuchstaben zum Beispiel, die vielen Stanzformen, Farben, Reinigungsmittel oder Öle, Ersatzteile und Schrauben, Werkzeuge, Pantonefächer, Messerklingen und seine vielen Aufzeichnungen. Sein, wie er ihn immer respektvoll nannte, `Drucksaal´, riecht nach Maschinenschmiere und Fetten, nach Lösungsmitteln und vor allem nach harter Arbeit.
Als Kalli seinen Betrieb hier eröffnete, auch viele Jahre danach, hatte er mehr als genug zu tun. Es reichte für die laufenden Kosten, die Familie, für die Ausbildung seines Sohnes. Nicht selten blieb auch mal etwas mehr übrig. Es langte so für ein gutes Leben und ein sicheres Auskommen für die Familie. Seine Hochzeitskarten waren hochbegehrt, denn sie stellten wahrlich kleine Kunstwerke dar, ebenso, wie seine Geburts- oder Konfirmationsanzeigen. Mit Hingabe prägte er die erhabenen Schriften, silbernen Ornamente oder den goldenen Lorbeer zu Ehren des Jubilars oder zum Abschied von einem geliebten Menschen. Viel zu früh auch für seine eigene Frau.
Er druckte in jener Zeit Visitenkarten für die Herren Direktoren, Maler und Rechtsanwälte der Umgebung. Und das waren zu Beginn nicht gerade wenige hier in Hamburg-Altona. Er stellte Broschüren und Präsentationen für kleinere sowie auch ein paar große Firmen her, unzählige Werbeplakate, für den Metzger Czech, den Lebensmittelladen von Herrn Manzel, Frau Feddersens Heißmangel im Nebenhof oder für das Spielwarengeschäft „Röhr“ an der Ecke. Nach und nach aber mussten diese kleinen Läden aufgeben. Und mit ihrem Verschwinden ging das Geschäft von Kalli jedes Mal ein Stückchen mehr zurück.
Er galt nie als profaner Feld-Wald-und-Wiesendrucker. Vielmehr als Künstler, Improvisator, Präzisionsfanatiker – vor allem als Purist. Seine größte Leidenschaft war die Kunst der schönen Schriften, die Kalligraphie. Diese brachte ihm frühzeitig seinen Spitznamen ein. Julius hat diese Passion ebenfalls im Blut, und genau wie sein Vater vom Druckhandwerk in den Bann gezogen worden. Mittlerweile schon fast dreißig, hat er gerade sein Druckingenieursstudium beendet und seinen ersten Job in einem Großbetrieb angetreten.
Kalli gehört zu unserem Haus, wie die Bank und die Pflastersteine im Hof. Als ich vor ein paar Jahren hier einzog, lebte und arbeitete er bereits fast fünfzig Jahre an diesem Ort, einem alten Mietblock aus den Dreißigern, typisch für seine Zeit in U-Form gebaut. Eine einstöckige Zeile schließt den Bau zu einem Rechteck. Ursprünglich war dieser Teil einmal als Stall gedacht, um irgendwann zu Garagen und wenig später zu einer kleinen Druckwerkstatt umgebaut zu werden.
Das Ganze gehört Willi. Inmitten des alten Teiles von Altona und nahe am Bahnhof gelegen hat er es von seinem Großvater geerbt. Das ist nun aber auch schon viele Jahre her. Er ist seither Vermieter, Hausverwalter und Hausmeister in einer Person. Irgendwann war er in grauer Vorzeit Handwerker und wahrscheinlich trägt er deshalb mit besonderer Vorliebe dunkelrote oder blaue Overalls, in deren Latz er fast immer seine Hände versteckt. Diese Haltung signalisiert nicht nur Gelassenheit, sie hilft den bereits umfangreich gewachsenen Bauch etwas zu kaschieren. Seine O-Beine sind überdurchschnittlich ausgeprägt, wie er selbst sagt: Wohl etwas zu sehr über die Tonne gebügelt.
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