Ich gehe davon aus, dass Ihre Zeit sehr knapp bemessen und die Liste derjenigen riesig, wenn nicht endlos ist, die von Ihnen unterrichtet werden wollen. Doch wäre ich Ihnen, sehr geehrter Herr Baródin, sehr dankbar, wenn Sie es möglich machen würden, meinem Sohn den Unterricht zu erteilen. Für ihn wäre es der große Lichtblick in seine Zukunft.
Über eine Nachricht von Ihnen würde ich mich sehr freuen.
Mit großer Bewunderung grüßt Sie
M. von Liebenau
P.s.: Anschrift: Mommsenstraße 3, Berlin-Charlottenburg
Telefon: 466 8753
“Sehr geehrte Frau Liebenau, Sie haben recht, die Liste der Anwärter, die von mir unterrichtet werden wollen, ist brechend voll bis endlos. Bitte haben Sie Verständnis, dass auch mein Tag nur vierundzwanzig Stunden hat, und ich noch etwas Zeit zum Essen und zum Schlafen brauche. Für Ihr Verständnis danke ich Ihnen.” Mit dieser Bemerkung faltete Boris den Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag und legte ihn auf den Briefturm von Bittschriften um einen Unterricht. Er setzte sich an den Flügel und begann seinen Part des zweiten Brahms-Konzerts, Opus 83. Das Spielen ging ihm gut von der Hand, und er fühlte eine erste Sicherheit im Vortrag, die er brauchte, denn die Erwartungen, die auf ihn in Warschau und in Moskau zielten, waren hoch. Da dachte er an Ilja Igorowitsch, der sich auf das Kommen des Sohnes so sehr freute und bei der ihm mitgegebenen Musikalität einer brillanten Konzertaufführung entgegensah. Boris spielte und übte, er übte und spielte. Die Stunden vergingen im Fluge, als am Nachmittag gegen vier das Telefon klingelte. Dieses Klingeln störte ihn sehr. Er wollte jetzt vom Telefonieren nichts wissen, wollte das Klingeln nicht hören. So überhörte er die nächsten Klingelzeichen und blieb beim Üben und Spielen von Brahms. Das Klingeln hörte auf und setzte nach kurzer Unterbrechung wieder ein. “Verdammt nochmal, ich muss üben”, brüllte Boris verärgert zum Fenster des Arbeitsraumes. Doch die Klingelzeichen nahmen darauf keine Rücksicht. Missmutig nahm er den Hörer ab: “Hallo?” Vom anderen Ende meldete sich Herr Groß von der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank: “Herr Baródin, guten Tag! Störe ich Sie?” Boris: “Eigentlich schon, denn ich habe zu üben. Mir stehen nur noch wenige Tage zur Verfügung. Aber wenn Sie schon dran sind…” Filialleiter: “Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen. Es ist in der Sache Kleinert. Da sind doch die Fahnder bei der Wohnungsdurchsuchung fündig geworden. Damit will ich sagen, dass sich ihr Verdacht bestätigt hat.” Boris: “Da bin ich erleichtert, und die junge Frau, die er als Rudolf mit falschen Versprechungen seit Wochen erpresste, wird nicht weniger erleichtert sein.” Filialleiter: “Die Fahnder haben Herrn Kleinert zum Polizeipräsidium mitgenommen, wo er weiter verhört wird. Für mich ist die Sache aufregend...”, Boris unterbrach: “Das glaube ich Ihnen sofort”, Filialleiter: “dass so ein Mann hier arbeitet, ohne schon früher entlarvt worden zu sein.” Boris: “Herr Groß, da will ich Sie trösten. So etwas kommt auch woanders vor. Wenn diese Larven früher gefasst würden, ich meine, bevor sie sich zu gut angezogenen Leuten entpuppen und sich geschickt tarnen, wie im Falle Kleinert der Erpresser sich im freundlichen Bankangestellten mit korrektem Anzug und passendem Schlips versteckt, dann sähe es auch in unserer Gesellschaft besser aus.” Filialleiter: “Da stimme ich ihnen hundertprozentig zu.” Boris: “Jedenfalls danke ich ihnen für diese Mitteilung, weil Sie mir dadurch einen Stein vom Herzen nehmen. Ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie mich weiter auf dem Laufenden halten würden.” Filialleiter: “Wie ich schon sagte, wird Herr Kleinert im Augenblick im Drogendezernat vernommen. Die Beamten sagten mir zu, mich über den Stand der Dinge zu unterrichten. Ich habe der Bankdirektion bereits den peinlichen Vorfall gemeldet. Auf mich kommt nun die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens zu, das gründlich vorbereitet werden muss, damit eventuelle Regressansprüche, die aufgrund der fristlosen Entlassung zumindest im Raume stehen, abgewiesen werden können. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten. Bitte entschuldigen Sie die Störung, die ich verursacht habe. Aber ich hielt es für wichtig, Sie vom Ergebnis der Durchsuchung und über den gegenwärtigen Stand der Dinge zu unterrichten.” Boris: “Es war eine wichtige Mitteilung, und ich danke ihnen, Herr Groß.”
Boris legte den Hörer auf und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Viel Zeit durfte es nicht nehmen, weil er bis in den späten Abend am Konzert arbeiten wollte. So legte er zwei Eier in den kleinen Topf, der halbvoll mit Wasser gefüllt war, drehte den Knopf der Kochplatte auf die höchste Heizstufe, um das Wasser schnell zum Sieden zu bringen. Dann schnitt er sich zwei Scheiben vom Graubrot und bestrich sie dick mit Butter. Er hatte Hunger, denn bis auf ein paar Kekse, die er während des Übens in den Mund gesteckt hatte, hatte er seit dem Morgen nichts gegessen. Dass er am Abend noch im Bademantel war, das störte ihn nicht. In seinen Gedanken war er am zweiten Brahms-Konzert und nirgendwo anders.
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