Es klingelte an der Tür. Da keiner vor ihr stand, drückte er den Öffner der Haustür. “Post!”, rief der Briefträger. Boris hörte das dumpfe Geräusch, wenn Briefe und Zeitungen durch den Schlitz in den Briefkasten geschoben werden. Er ging runter und holte die Sendung aus dem Kasten. Es waren Briefe, einer von seinem Agenten in Berlin und ein anderer, dem eine Reihe politisch symbolträchtiger Marken der UdSSR aufgeklebt waren, von seinem Vater Ilja Igorowitsch Tscherebilski. Ein dritter Brief hatte keinen Absender, der in Berlin abgestempelt war. Dazu gab es die ‘Berliner Morgenpost’, die Boris seit einem Jahr abonniert hatte. Beim Treppensteigen nahm er einen Blick auf die Titelseite der Zeitung, wo das unmenschliche Mauermonstrum abgebildet war, worunter die Frage stand: “Wie viele Menschen sollen dem Schießbefehl noch zum Opfer fallen?” Der Artikel befasste sich mit dem tödlichen Fluchtversuch eines achtundzwanzigjährigen DDR’lers, der auf der Mauer angeschossen wurde und auf der Westberliner Seite verblutete. Einer von vielen Fällen, bei dem die Flucht in den Westen mit dem Tod endete, weil der Schießbefehl auf Ostberliner Seite rigoros eingehalten wurde und jede Hilfe auf dem Boden der Freiheit zu spät kam. Boris war froh und dankbar, dass Mutter und er noch wenige Wochen vor Errichtung des unmenschlichen Betonmonsters die Abhörrepublik mit dem sozialistischen Volkskerker hinter sich gelassen haben. Für ihn war es unfassbar, dass Menschen wie Schwerverbrecher betrachtet, behandelt und erschossen wurden, weil sie es unter dem roten Terror der angeblichen Brüderlichkeit mit der Rund-um-die-Uhr-Bespitzelung, die bis in die Familien hineinreichte, den gefürchteten Verhören, den Schauprozessen mit den falschen Anschuldigungen und den lähmend hohen Zuchthausstrafen nicht mehr aushielten. Wie lange dieses Unrecht das Siebzehnmillionenvolk noch ertragen sollte, das stand allerdings in den Sternen, vor allem dem großen roten Sowjetstern. Boris schob die Wohnungstür leise und nachdenklich ins Schloss, ging zur Klubecke, legte die Zeitung auf die offenen, übereinanderliegenden Partituren und widmete sich den Briefen. Er öffnete sie mit dem Kugelschreiber und zog als erstes das Schreiben von seinem Agenten Berthold Graf heraus. Dieser teilte ihm mit, dass der Flug nach Warschau und dann nach Moskau für die Business-Klasse gebucht sei. Der Flug nach Warschau gehe mit Air France vom Flughafen Tempelhof ab. Den Flug von Warschau nach Moskau übernehme die sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot. Die Flugkarten liegen zum Abholen in seinem Büro. Auch seien die Hotelreservierungen vorgenommen worden. “Alles laufe nach Plan. Mit freundlichen Grüßen B. Graf, Konzertagent.” Boris dachte sich seinen Teil und sagte zu sich, dass bei ihm nicht alles nach Plan laufe, weil der Infekt mit den lästigen Hustenanfällen und die eitrige Tonsillitis dazugekommen seien. “Wie kann ein Agent nur so etwas behaupten? Das kann er nur, weil er sich nicht informiert, sich nicht gründlich um den Pianisten kümmert, was in den Aufgabenbereich eines Konzertagenten gehört.” Er legte das Schreiben mit dem Gefühl der Missbilligung auf die aufgeschlagene Partitur der dritten Polonaise von Frédéric Chopin auf dem kleinen Klubtisch.
Nun wandte sich Boris dem Brief seines Vaters Ilja Igorowitsch, dem ehemaligen Stadtkommandanten von Bautzen, zu. Boris sah sich den Umschlag von vorn und hinten an, bewunderte die akkurate und ausdruckvolle Handschrift, die vorn mit lateinischen und auf der Rückseite mit kyrillischen Buchstaben gut zu lesen war. Beim Herausziehen des Blattes dankte der Sohn dem Vater für seine Liebe und Fürsorge, für das Gute, das er dem Sohn gegeben, zu seiner Bildung beigetragen und musikalisch geweckt hat. Wie der Umschlag, so der Brief, ausdrucksvoll stach die Handschrift im fehlerfreien Deutsch ins Auge:
Moskau, den 17. April 1974
Boris, mein lieber Sohn!
Du kannst Dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, Dich nach den Jahren Deines letzten Konzertes wiederzusehen und zu hören. Ich kann es nicht abwarten und zähle die Tage. Es ist ein schwer zu spielendes Konzert, das zweite Brahms-Konzert. Doch Du wirst es meistern bei Deiner großen Begabung in der Musikalität und virtuosen Fingerfertigkeit. Du wirst vom besten Orchester begleitet, das es derzeit in der UdSSR gibt, nämlich den Moskauer Philharmonikern, denen weltberühmte Dirigenten, wie Leonard Bernstein, Sir Georg Solti und manche andere vorgestanden haben. Diesmal ist es Igor Sergej Majakowski, ein noch junger, aber großartiger Dirigent. Er ist ein Nachfahre des berühmten russischen Dichters Wladimir Majakowski. Du erinnerst Dich sicher an seine wunderbaren Gedichte. Ich hatte Dir vor Jahren einen Band seiner Gedichte geschickt. Igor Sergej ist ein genialer Musiker, ein Tongestalter, wenn er vor den Philharmonikern steht. Er beherrscht die Partitur aus dem “ff”, was ihn dynamisch, höchst einfühlsam und stark macht, weil er beim Dirigieren nicht zu lesen braucht. Das Notengebäude hat Igor Sergej bis ins letzte Detail im Kopf. Du wirst von ihm und seiner nachschöpferischen Kraft begeistert sein. Von den Philharmonikern brauche ich Dir nicht erzählen,weil Du sie bereits besser kennst als ich. Du wirst mir zustimmen, dass sie großartige Musiker sind, wie sie anderswo ihresgleichen suchen lassen.
Wie geht es Anna Friederike? Oft denke ich an die Bautzener Zeit zurück, an die musikalischen “Ausflüge” auf dem herrlich klingenden Förster-Flügel. Die ersten Jahre nach dem Krieg waren schwer für die Menschen, doch haben sie große Dinge hervorgebracht, die für mich unvergesslich bleiben. Grüße bitte Deine Mutter herzlich von mir. Wie gesagt, ich freue mich riesig auf Dein Kommen.
In der Hoffnung, dass Du Dein Russisch nicht ganz vergessen hast, möchte ich den Brief mit zwei Strophen aus dem Gedicht “Augen” der Dichterin Marina Zwetajewa beenden, die mich beim Lesen jedesmal besonders ansprechen:
ГЛАЗА / AUGEN
Так знайте же, что реки - вспять, So begreift doch, was Ströme beweinen,
Что камни - помнят! Das kehrt zu Steinen verknittert zurück!
Что уж опять oни, опять Dass schon bereits sie, bereits sie sich
В лучах огромных Im gewaltigen Strahlenschein
Встают - два солнца, два жерла, Erheben - zwei Sonnen, zwei Schlünde,
- Нет, два алмаза! - - Nein, zwei Diamanten! -
Подэемной беэдны зеркала: Im Spiegel abgründiger Tiefen:
Два смертных глаза. Zweier sterbender Augen.
(geschrieben: 2. Juli 1921)
Ganz herzlich grüßt Dich, mein lieber Boris,
Dein Ilja Igorowitsch
Boris las den Brief zweimal, weil er auch das, was sich zwischen den Zeilen versteckte, “lesen” wollte. Was stand für ihn zwischen den Zeilen? Zunächst war es die tiefe, ungebrochene Freundschaft, die Ilja Igorowitsch mit seinem Sohn verband, und die eine Freundschaft war, die tief aus dem Herzen kam. Dann versteckte sich zwischen den Zeilen, dass sein Vater eine herzliche Empfindung zu Anna Friederike behalten hatte, die er doch geliebt hatte. Dass er, Boris, aus dieser großen Liebe heraus geboren wurde, die eine Liebe der gegenseitigen Zuneigung war, das hat sich als das große gemeinsame Glück herausgestellt. Er, Boris, als das Kind dieser Liebe, ist beiden Eltern ans Herz gewachsen, dass beide von großem Respekt und unzerbrochener Zuneigung voneinander denken und sprechen. Die große Musikalität, die Boris vom Vater bekommen hatte, stellt für Vater und Mutter ein unbeschreibliches Glück dar. Der Vater ist stolz auf die musische Begabung des Sohnes und seine pianistischen Leistungen, zu denen es Ilja Igorowitsch trotz großen Talents nicht gebracht hatte, auch wenn bei dieser Einschränkung der Militärberuf mit der Offizierslaufbahn zu berücksichtigen war, der für das Klavierspiel in den Jahren des zweiten Weltkrieges, der für ihn der große Vaterländische Krieg war, nur wenig Raum ließ. Für die Mutter Anna Friederike blieb es ein Wunder, dass sie so einen Sohn zur Welt gebracht hatte, der mittlerweile trotz seiner noch jungen Jahre zu den großen Pianisten zählt. Dieses Wunder der besonderen Mutterschaft ist das Fundament ihrer bleibenden Dankbarkeit an Ilja Igorowitsch, der es in seinem Bautzener Abschiedsbrief vorausgesagt hat, dass er, Boris, ein Pianist werden wird, der die Menschen erstaunen lässt. Auch kam Boris das Telefonat in Erinnerung, von dem ihm Anna Friederike oft erzählte. Es war das Telefonat, das sie in der Silvesternacht 69/70 aus London mit ihrem Vater Eckhard Hieronymus Dorfbrunner führte. Boris’ Großvater litt an der multiplen Sklerose und war an den Rollstuhl gefesselt. In diesem Telefonat sagte Eckhard Hieronymus, dass sein Stern, der dorfbrunnersche, die Leuchtkraft verloren habe, zumal sein einziger Sohn Paul Gerhard Dorfbrunner, der zwei Jahre jünger als seine Mutter Anna Friederike war, als spät Eingezogener an der Ostfront verschollen war, als eigentlich alles schon zu spät, der Kriegsausgang längst entschieden war, nun als Namensträger für die nächste Generation ausgefallen war.
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