Boris dachte, dass die Neugier den Beamten zu dieser Frage getrieben hat. Denn er war nicht der erste und würde nicht der letzte sein, der diese Frage, aus welchen Gründen auch immer, stellt. Boris: “Von der Musik her betrachtet gibt es kein volleres Leben, als es ein Musiker mit der Musik als Beruf lebt. Wenn der Musiker zur Begabung noch fleißig ist und täglich seine Übungen macht, dann wird er mit den Konzerten, die er in der Bundesrepublik oder sonstwo in der Welt gibt, auch finanziell über die Runden kommen.” Der Beamte: “Nehmen Sie mir die Frage nicht übel. Sie kommt nicht nur aus der Neugier, sondern auch aus der Sorge um meinen 18-jährigen Sohn, der Pianist werden möchte, also in ihre Richtung hin tendiert und mir mit seinem Wunsch, ein Pianist zu werden, seit über zwei Jahren in den Ohren liegt. Boris: “Hat er die Schule schon beendet?” Der Beamte: “Er macht sein Abitur im nächsten Jahr.” Boris: “Bis dahin kann sich noch vieles ändern, auch was die Berufswahl betrifft.” Der Beamte: “Das habe ich auch geglaubt. Aber mein Sohn hat mich da eines Besseren belehrt. Der ist von seiner Pianistenidee weder abgekommen noch abzubringen. Ich habe mir den Mund fuselig geredet. Der stellt seine Ohren auf Durchzug, sobald er feststellt, dass ich oder jemand anders ihn von dieser Idee abbringen will.” Boris: “Was spielt er denn augenblicklich?” Der Beamte: “Genau kann ich es nicht sagen, weil er für sein Alter schon ein beachtliches Repertoire hat. Er liebt Beethoven. Das weiß ich bestimmt.” Boris: “Schicken Sie ihn doch mal vorbei, damit ich ihn hören kann.” Der Beamte: “Wann?” Boris: “Ich melde mich, wenn ich von der Konzertreise zurück bin.”
Herr Wilhelm las die Anzeige auf Tippfehler durch, wobei er das eingelegte Blatt in der Schreibmaschine Zeile für Zeile nach oben drehte. Er fand keinen Fehler. So drehte er das Blatt aus der Maschine, las den Inhalt vor und fragte, ob das Geschriebene so recht ist und dem Tatbestand entspricht. Boris bejahte die Frage und sagte, dass die Anzeige dem Tatbestand entspreche. “Dann lesen Sie die Anzeige noch einmal durch und setzen ihre Unterschrift darunter”, sagte Herr Wilhelm im Amtston eines Kriminalbeamten. Boris kam dieser Aufforderung nach, las und unterschrieb die Anzeige. “So, das hätten wir”, meinte der Beamte Wilhelm und legte die geschriebene und unterschriebene Anzeige in die Aktenmappe zu dem Notizblatt, das er aus dem Notizblock gerissen hatte.
Ganz oben auf den vorderen Aktendeckel schrieb Herr Wilhelm mit dem roten Stift die Bearbeitungsnummer, die er mit schwarzem Stift auch in die Kladde der fortlaufenden Nummern übertrug. Wie auf dem vorderen Aktendeckel gab er der laufenden Nummer in der Nummernkladde den Namen ‘Eberhard Kleinert’. “Das wär’s für heute. Nun kann die Ermittlung ihren Lauf nehmen”, schloss der Kriminalbeamte die Sache mit der Erstattung der Anzeige ab und klappte die Akte mit den ersten beiden Papieren zu. Boris erhob sich und wünschte dem Beamten Wilhelm einen guten Abend. “Ich wünsche ihnen für ihre Konzert-Reise viel Erfolg”, sagte Herr Wilhelm, als Boris an der Tür mit der abgegriffenen Klinke in der Hand stand. “Ich melde mich, wenn ich von der Reise zurück bin”, bemerkte Boris mit einem Lächeln, während der Beamte Wilhelm die angelegte Akte auf die anderen legte und den Schreibtisch aufräumte. “Dann schick ich ihnen meinen Sohn Andreas zum Vorspielen, damit Sie sich ein Urteil über seine Fähigkeiten machen können”, sagte er. “Das ist in Ordnung!”, Boris verließ den Raum und schloss die Tür.
Er ließ sich mit dem Taxi zurück in die Wohnung fahren. Es war Abend. Boris hatte ein unwohles Gefühl. Es bedrückte ihn, dass er den Tag für seine Konzert-Vorbereitung verloren hatte. Er machte sich in der Küche den chinesischen Kräutertee und schluckte die Antibiotikakapsel gegen die eitrige Tonsillitis. Mit der Tasse setzte er sich in die schmale Klubecke und dachte über den Ablauf des “verlorenen” Tages nach. “Hoffentlich hat Olga dem Türken das Geld gegeben, dass dieser sie in Ruhe lässt. Hoffentlich werden die Kriminalbeamten bei der Wohnungsdurchsuchung fündig, dass dem Eberhard Kleinert, alias Rudolf, dem jungen Bankangestellten, den Filialleiter Groß zu seinen besten Mitarbeitern zählt, das betrügerische Handwerk gelegt wird.” Diese Gedanken gingen Boris durch den Kopf, den die Brutalität der Erpressung aufs Heftigste anwiderte. Er trank den Tee aus, stellte die Tasse auf den kleinen Klubtisch, überflog mit einem Blick die offene Solo-Partitur des Schumann-Klavierkonzertes, die über den ebenfalls offenen Partituren des Beethoven- und des Grieg-Konzertes lag.
Er ging an den Flügel und begann mit dem Schlusssatz aus dem zweiten Brahms-Konzert mit dem schnellen Schlussteil im ‘un poco più presto’. Dabei stellte er das Metronom auf 138 Viertelnotenschläge pro Minute, wie es Brahms in der Partitur angegeben hat. Über den Stakkati der arpeggierten Töne im Akkordvortrag mit den Dezimen in der linken Hand, rollten mit der rechten Hand die Oktavläufe in geschlossener, dann in unterbrochener Folge und auch im Stakkato der Hammerschlagtechnik präzis ab. Boris war zufrieden, weil Tempo und Genauigkeit stimmten. Er spielte den Schlussteil noch ein zweites, ein drittes und ein viertes Mal. “Wenn das andere auch so geht, dann braucht sich Brahms nicht im Grab herumzudrehen”, sprach er zu sich selbst, als er aufstand und die Tasse vom Klubtisch nahm, in die Küche ging, und eine zweite Tasse Tee eingoss.
Er stand in der Küche und war mit seinen Gedanken beim Konzertvortrag in Warschau und dann in Moskau, als das Telefon klingelte. “Es wird Mutter sein, die sich nach dem Befinden und dem Ausgang der Untersuchung erkundigen wird”, dachte er. Boris hatte ihren Anruf erwartet und sich gewundert, dass sie, es war neun Uhr abends, nicht angerufen hatte. Doch es war nicht die Mutter, sondern Margit Hoffmann, die hübsche Arzthelferin in der Praxis von Dr. Gaby Hofgärtner. “Störe ich Sie?”, begann sie etwas unbeholfen das Telefonat. Boris: “Nein, das tun Sie nicht.” “Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe, aber ich habe mir Gedanken über ihren Zustand gemacht”, fuhr Margit Hoffmann fort, “weil Sie sagten, dass Sie am Konzert arbeiten, das Sie in Kürze vortragen werden. Wo Sie es spielen werden, das haben Sie nicht gesagt.” Boris: “Erst in Warschau und dann in Moskau.” Margit: “Ich wünschte, ich könnte Sie einmal im Spielen hören. Ich habe einige Kritiken über ihre Aufführungen in Berlin und Leipzig gelesen. Die waren voll des Lobes.” Boris: “Ich hoffe, dass ich diesmal gut in Warschau und Moskau ankomme. Wissen Sie, Fräulein Margit, wenn solche Kritiken vorausgehen, sind die Erwartungen hoch. Und die zu erfüllen, das ist nicht leicht.” Margit: “Fühlen Sie sich denn besser? Denn ein Konzert aufzuführen, braucht viel Kraft und Konzentration.” Boris: “Ich bin noch weit entfernt von einer guten Kondition. Ich habe die erste Penicillintablette geschluckt. Die zweite werde ich vor dem Schlafengehen nehmen. Ich hoffe, dass sich mein Zustand morgen gebessert hat, dass ich mich wieder auf die Musik konzentrieren kann.” Margit: “Ich wünsche ihnen dazu eine gute und rasche Besserung.” Boris: “Das ist sehr freundlich von ihnen. Ich darf ihnen sagen, dass mich bislang noch kein Arzt und keine Ärztin angerufen hat, um sich nach meinem Gesundheitszustand zu erkundigen. Sie sind die erste, die das tut.” Margit: “Ich bin nur eine Arzthelferin. Aber ich habe ihre Sorge gespürt, die sie unter dem Zeitdruck der bevorstehenden Konzertreise haben. Ich will Sie nicht länger aufhalten und wünsche ihnen eine gute Nacht.” Boris: “Vielen Dank, auch ich wünsche ihnen eine gute Nacht.”
Kaum war der Hörer aufgelegt, da klingelte das Telefon erneut. Nun war es die Mutter, Frau Anna Friederike Elbsteiner, geborene Dorfbrunner, aus Hamburg-Blankenese. “Mein Sohn, wie geht es Dir. Ich mache mir große Sorgen um deine Gesundheit. Warst Du beim Arzt, ich meine bei einem Spezialisten?” Boris: “Meine Ärztin hat mich auf den Kopf gestellt. Dabei hat sie gefunden, was ich gestern morgen vor dem Spiegel schon entdeckt hatte, dass die Mandeln entzündet und von grauweißen Stippchen durchsetzt waren. Das ist zum grippalen Infekt hinzugekommen. Sonst hat sie nichts weiter gefunden.” Mutter: “Das reicht doch! Mit so einer Tonsillitis ist nicht zu spaßen. Hast Du Beschwerden beim Schlucken? Wie ist deine Temperatur?” Boris: “Das Schlucken geht ohne größere Probleme; die Temperatur hält sich bei achtunddreißig und macht keine großen Sprünge wie die Tage zuvor. Dr. Hofgärtner hat mir Penicillin verschrieben. Die erste Tablette habe ich geschluckt. Ich glaube, eine erste Besserung zu spüren.” Mutter: “Mein lieber Sohn, so schnell geht das in der Biologie nicht. Da musst Du schon einige Tage das Penicillin einnehmen, ehe Du einen Fortschritt feststellen kannst. Reagierst Du nicht allergisch auf das Penicillin?” Boris: “Mutter, genau weiß ich es nicht. Dr. Hofgärtner hat mir ein synthetisches Penicillin verschrieben, bei dem das Risiko, eine Allergie zu bekommen, niedriger sei. So hat es die Ärztin jedenfalls gesagt.” Mutter: “Na, dann wollen wir hoffen, dass die Sache besser und nicht schlimmer wird.” Boris: “Das hoffe ich auch. Und wie geht es dir? Hast Du einen guten Tag gehabt?” Mutter: “Der Tag war ruhig. Gerald ist auf Geschäftsreise in Brüssel und dann in Paris.
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