1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Boris ging mit Claude und Olga ins Musikzimmer, das sein berufliches Arbeitszimmer war, und Olga und Claude setzten sich in die schmalen Sessel in der engen Klubecke. Boris öffnete im Stehen den Briefumschlag und holte einen handgeschriebenen Zettel heraus, auf dem ganz oben das Wort “Eilt!” zweimal unterstrichen stand. Darunter folgten das Datum des Tages und sein Name mit der Wohnanschrift. Darunter kam der Text, der aus zwei Sätzen bestand: “Bitte beim Drogendezernat melden: Telefon: 20147-3445. Eine Hausdurchsuchung bei Herrn E. Kleinert wegen des Verdachtes auf unerlaubten Drogenbesitz kann ohne vorherige Anzeige nicht erfolgen.” Unter der unleserlichen Unterschrift stand “Kriminalrat”. Boris informierte die beiden, die ihn beim Lesen des Schreibens aufmerksam beobachteten, über den Inhalt. “Ich muss dort sofort anrufen. Über das Treffen mit “Rudolf” am Schalter der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank und das Gespräch mit dem Filialleiter werde ich euch anschließend berichten.”
“Drogendezernat Wilhelm”, so meldete sich mit ruhiger Stimme Herr Wilhelm am anderen Ende der Leitung. “Hier spricht Boris Baródin von der Knesebeckstraße 17. Guten Tag! Ich halte ein Schreiben von ihnen in der Hand. Die Unterschrift kann ich allerdings nicht entziffern. Es ist ein Kriminalrat.” Herr Wilhelm unterbrach: “Kriminalrat Stumm muss es gewesen sein, der mit einem Kollegen in die Knesebeckstraße 17 gefahren war, um Sie zu sprechen. Ihre Anschrift hat er von der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank erhalten.” Boris: “Wahrscheinlich von Filialleiter Groß.” Herr Wilhelm: “Das kann ich nicht sagen; aber möglich ist es. Herr Baródin, ich darf Sie bitten, mich im Dezernat, Polizeipräsidium, fünfter Stock, Zimmer 517 aufzusuchen. Es geht um die Drogensache Kleinert. Aber ohne schriftliche Anzeige von ihnen können die weiteren Maßnahmen nicht unternommen werden.” Boris: “Ich verstehe.” Herr Wilhelm: “Sie müssen also zu mir kommen, damit ich eine Anzeige aufsetzen kann, die von ihnen zu unterschreiben ist.” Boris: “Wann soll ich kommen?” Herr Wilhelm: “Sie können gleich kommen.” Boris: “Im Augenblick habe ich Besuch, aber in einer Stunde wäre es möglich.” Herr Wilhelm: “Das ist in Ordnung. Wir sehen uns in einer Stunde.” Dann legte der Beamte den Hörer auf.
“Ihr seht, die Sache kommt ins Rollen”, sagte Boris zu Claude und Olga und legte den Hörer auf. “So, nun erst einmal zum Besuch in der Filiale Reuter-Platz. Der junge Mann am linken Schalter, den Olga beim Blick durch die offene Tür des Eingangs gleich als den Mann identifizierte, dem sie das Heroin verschafft, und der sich ihr als Rudolf ausgibt, heißt Eberhard Kleinert. Er selbst sagte mir am Schalter beim Einlösen meines Schecks, dass er nicht Rudolf, sondern Eberhard heiße. Mit dem Filialleiter hatte ich dann ein langes Gespräch, der dem Eberhard den Zunamen Kleinert gab. Ich schilderte ihm das Problem, das er so einfach nicht glauben wollte, weil er diesen Bankangestellten zu seinen besten Mitarbeitern zählt. Nachdem ich ihm die Gefahren und das hohe Risiko, mit denen Olga tagtäglich zu leben hat, aufgezeigt habe, hat er eingelenkt und einer Überprüfung der Situation, soweit sie diesen Bankangestellten betrifft, zugestimmt. Damit dieser Eberhard Kleinert, alias Rudolf, nicht erst den Verdacht schöpft, dass er ins Visier genommen wird und eilends zurückgelassenes Heroin, Spritzen, Nadeln. usw. wegräumt beziehungsweise verschwinden lässt, deren Auffinden den entscheidenden Beweis zu seiner Überführung liefert, sind Filialleiter Groß und ich übereingekommen, mit der Durchsuchung seiner Wohnung zu beginnen. Denn auch der Filialleiter, der fassungslos war und sagte: “das schlägt dem Fass den Boden aus!”, braucht diesen Beweis. Wenn der Beweis mit dem Stoff und seiner Verwendung nicht gebracht wird, dann kann nichts gegen diesen “Rudolf” unternommen werden. Ohne den Beweis fällt alles ins Wasser! Dann kann der “Rudolf” den Anzeiger wegen Verleumdung auf Regress verklagen.”
Olga sah auf den kleinen Klubtisch, auf dem geöffnete Partituren sich türmten. Ihr Blick ging wieder nach unten, so ähnlich, wie sie in der Bäckerei und Konditorei Pollack auf die kleine, quadratische Platte des Fenstertisches sah, wo sich ihr Blick an der Tischplatte “festgeklemmt” hatte und noch an ihr klebte, als Teller und Tassen von der jungen Serviererin mit der blütenweißen Schürze abgeräumt waren. Claude atmete schwer durch. “Hoffentlich geht das gut, ich meine, hoffentlich finden die Beamten vom Drogendezernat den Beweis”, sagte er. “Das hoffe ich auch, denn sonst stehen wir blöd da”, fügte Boris hinzu. Dann sagte er: “So lange die Ermittlungen laufen, müssen für Olga die nötigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Sie darf nicht allein sein und sich nicht auf der Straße blicken lassen. Sie muss in deiner Wohnung den ganzen Tag bleiben. Das ist dein Beitrag Claude, den du zu bringen hast, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Du musst also einkaufen und das Waschen und Bügeln der Wäsche im Waschsalon besorgen. Auch sollten die Mieter über und unter euch von Olga’s Existenz nichts wissen. Sie darf aufs Klingeln an der Tür oder des Telefons nicht reagieren. Das Telefon ist lediglich dazu da, einen Notruf an die Polizei oder einen Freund zu tätigen, dem sie die Hilfeleistung wirklich zutraut.” Claude: “Ich stimme dir zu, dass erhöhte Sicherheitsmaßnahmen in der Zeit der Ermittlungen getroffen werden müssen.” Boris: “Hier ist das Geld, damit Olga die Schulden bei dem Türken los wird. Macht das noch heute Abend. Dabei sollst du Olga begleiten”, sagte Boris mit festem Blick zu Claude. “Jetzt müsst ihr gehen, denn ich muss mich auf den Weg zum Polizeipräsidium machen. Ihr wisst Bescheid. Ruft mich morgen gegen elf an, dann kann ich euch mehr berichten.”
Es war halb sechs, als Boris ein Taxi nahm und sich zum Polizeipräsidium fahren ließ. Die Fahrt nahm eine Viertelstunde in Anspruch. Er zahlte, stieg aus und betrat das Gebäude, das ein älteres Hochhaus war. Der Aufzug brachte ihn zum fünften Stock, und das Zimmer 517 fand Boris, nachdem er erst in die falsche Flurrichtung gegangen war, wo rechts und links die Zimmernummern von 501 bis 514 gingen. Die Tür war verkratzt und die Klinke abgegriffen, als Boris den Dienstraum 517 betrat. Der Beamte vom Dienst wusste den Namen und sagte: “Sie sind Herr Baródin.” “Ja, das bin ich, dann sind Sie Herr Wilhelm”, erwiderte Boris. Der Beamte: “Ganz recht. Nehmen Sie Platz. Sie wissen, um was es geht. Nur ohne Anzeige geht es eben nicht.” Boris: “Verstehe.” Der Beamte suchte nach dem Notizblock zwischen den anderen Papieren. Er fand ihn, blätterte einige zurückgeschlagene Seiten nach vorn und las auf der gesuchten Seite die Notizen: “Es handelt sich um einen gewissen Eberhard Kleinert, der als Bankangestellter bei der Dresdner Bank, Filiale Reuter-Platz, arbeitet. Wie Sie schon beim Telefongespräch vermuteten, haben wir ihren Namen und ihre Anschrift vom Filialleiter der Dresdner Bank erhalten. Er hat es deshalb getan, weil Sie ihm gegenüber in einem längeren Gespräch vorgetragen haben, dass bei dem Bankangestellten Kleinert der dringende Verdacht des vorsätzlichen Betruges, der Erpressung und des Besitzes und Missbrauchs von Heroin besteht. Er erpresse angeblich eine junge Dame, die ihn in Abständen, ob sie regelmäßig oder unregelmäßig sind, soll hier keine Rolle spielen, mit Heroin versorgt. Diese Dame ist eine Emigrantin ohne gültige deutsche Papiere, der Herr Kleinert das Versprechen gab, ihr die gültigen Papiere zu beschaffen unter der Bedingung, dass sie ihm die Droge nach Bedarf und kostenlos beschaffe. Stimmt das so?” Boris: “Das stimmt.” Der Beamte: “Wenn Sie sagen, dass das so stimmt, dann schreiben wir es so in die Anzeige.” Der Beamte zog ein Blatt in die Schreibmaschine und fing an, auf den Tasten zu hämmern. Er kannte die Tastatur auswendig, was die Schreibarbeit beschleunigte. “Was ist ihr Beruf?” “Konzert-Pianist”, gab Boris an und dachte an das zweite Klavierkonzert von Brahms, das er in etwas über einer Woche in Warschau und eine Woche später in Moskau zu spielen habe. Der Beamte ließ sich zu der Frage hinreißen, ob man mit diesem Beruf leben kann. Es war eine Frage, die den Rahmen der Anzeige überschritt.
Читать дальше