Helmut Lauschke
Boris Baródin
Aus dem Leben eines jungen Pianisten
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Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut Lauschke Boris Baródin Aus dem Leben eines jungen Pianisten Dieses ebook wurde erstellt bei
Musik, Begegnungen, Hilfe zur Befreiung
Die Reise nach Warschau
Der Weiterflug nach Moskau und die Begegnung mit dem Vater
“Hast Du den Sekt kalt gestellt?”, fragte Ilja Igorowitsch seine jüngere Frau. Das war der erste Satz, den der Vater seit der Abfahrt von der Philharmonie von sich gab. “Ja, Liebster, die Flaschen liegen gekühlt im Eisschrank”, antwortete Marina und nahm Boris den Rosenstrauß mit den Worten ab: “sind das herrliche Rosen!”. Sie holte die hohe Vase aus der Glasvitrine, füllte sie mit Wasser und stellte die Vase mit den roten Rosen auf den Tisch. “Dann ist die erste Flasche fällig”, sagte Ilja Igorowitsch mit dem Ton der Bestimmtheit. “Boris, sei so lieb und öffne sie”, setzte er nach. Wer Ilja Igorowitsch gut kannte, hörte im Nachsatz den Schmerz heraus, dass er selbst, der früher das Öffnen der Champagnerflasche sich nie hatte nehmen lassen, nun unfähig war, die Flasche zu öffnen. Boris holte die Flasche aus dem Eisschrank, öffnete sie mit knallendem Korken und goss den “Schaumstoff” mit dem stufenweisen Nachgießen in die langgestielten Gläser, die Marina auf den Tisch neben das Kaffeegeschirr vom Nachmittag gestellt hatte. Marina, die wie Boris neben dem Tisch stehenblieb, reichte das Glas ihrem Mann in die linke Hand. “Mein lieber Sohn”, setzte Ilja Igorowitsch an, “Du hast mir und Marina mit deinem Kommen eine große Freude gemacht. Die Freude wurde zum Wunder, als wir dich spielen hörten. Mit Worten kann ich es dir nicht sagen, wie mächtig dein Spiel mein Herz bewegt hat. Es ist ein Wunder, dass uns mit dir widerfahren ist. Du bist ein großer Herr auf dem Felde der Musik, ein General, der die höchste Achtung verdient. Dafür wollen wir, und besonders ich, dir danken. Sehr zum Wohl!” Sie ließen die Gläser klingen, wobei es aus dem schief gehaltenen Glas in Iljas linker Hand schwappte, und ein Schluckvolumen des Schaumstoffs über seine schwarze Jacke und dunkelblaue Krawatte kleckerte, was Marina nach dem Anstoßschluck mit der Serviette wegwischte. Boris nahm das Wort: “Vielen Dank, ich bin gerührt, lieber Ilja Igorowitsch, liebe Marina. Doch muss ich auch hier klarstellen, dass Du es bist, mein lieber Vater, dass es einen Boris Baródin gibt, und dass Du es nicht weniger bist, dass aus mir ein Pianist geworden ist, der sich hören lassen kann…” Ilja Igorowitsch unterbrach: “Nun untertreibe nicht wieder. Du gehörst zur Spitze der Klaviermusik…” Boris riss das Wort wieder an sich: “Das mag vielleicht so sein, aber die Grundlage zu allem hast Du gelegt. Das kannst Du doch nicht bezweifeln!” Ilja Igorowitsch kämpfte mit den Tränen, gab Marina sein Sektglas zum Abstellen auf den Tisch und zog sich das Taschentuch aus der linken Hosentasche. Dann führte Boris den Generalsvergleich an: “Ich höre aus deinen Worten den General sprechen. Neu für mich ist, dass Du die Offizierslaufbahn auch in die Musik bringst, dass es auf dem Felde des klingenden Friedens einen General geben soll. Doch wenn das so sein kann, dann darf es nur ein General in ziviler Kleidung sein.” Ilja Igorowitsch und Marina lachten. Ilja: “Trinken wir auf den General des klingenden Friedens, Du Spaßvogel!” Sie hatten die Gläser geleert, hielten sie aber noch in den Händen, als Ila Igorowitsch sagte, dass er nach den bitteren Erfahrungen nichts einzuwenden hätte, wenn die Kriegsgeneräle durch Friedensgeneräle ersetzt würden.
Rückflug nach Berlin mit Zwischenstation in Warschau
Die neuen Herausforderungen
Nachttraum vom Abschied des Ilja Igorowitsch
“Ilja Igorowitsch ist tot”
Der Klavierabend mit den Schülern. Die Anstrengungen, Vera nach Berlin zu holen
Auf dem Weg zur jungen Familie
Die Kieler Musikwochen
Die letzten Tage von Boris Baródin
Impressum neobooks
Musik, Begegnungen, Hilfe zur Befreiung
Aus dem Leben eines jungen Pianisten
Boris Baródin saß am Flügel in der Knesebeckstraße 17 in Berlin-Charlottenburg. Es war ein regnerischer Herbstabend. Seit Wochen regnete es, und Boris hatte sich für sein nächstes Konzert vorzubereiten, dass er in Warschau und danach in Moskau zu geben hatte. Für die Vorbereitung blieben ihm noch knapp zwei Wochen. Er hatte sich bei seiner Asientournee eine Erkältung mit heftigen Hustenattacken zugezogen, die ihn hartnäckig in Mitleidenschaft nahmen. So saß er mit erhöhter Temperatur am Flügel und probte die schwierigen Passagen am B-Dur, dem zweiten Klavierkonzert, Opus 83, von Brahms. Damit das Schwitzwasser nicht auf die Tasten tropfte, hatte er den roten Seidenschal, rot war seine Lieblingsfarbe, zusammengerollt über die Stirn gebunden und die Enden über dem Hinterkopf verknotet. Die Medikamente zur Fiebersenkung und Hustenbekämpfung, die ihm die Hausärztin, Dr. Gaby Hofgärtner, vor einer Woche verschrieben hatte, schienen trotz regelmäßiger Einnahme wenig zu helfen. Boris hatte deshalb um einen neuen Termin gebeten, den er aufgrund seiner beruflichen Besonderheit für den nächsten Tag, einem Freitag für elf Uhr bekam, bei dem er die Ärztin bitten wollte, ihn gründlich zu untersuchen, um etwas Ernsthaftes auszuschließen, was die Ursache sein könnte, dass sich die Rekonvaleszenz über das normale Maß hinaus verzögerte. Denn eine Erkältung mit Husten war für ihn nicht ungewöhnlich, wenn er in den Monaten eines verspäteten Sommers oder früh einsetzenden Winters auf Konzertreisen war.
Boris saß am Flügel und probte an der Solo-Kadenz, als gegen acht das Telefon läutete. Es war seine Mutter Anna Friederike Elbsteiner, die ihn aus Hamburg anrief, wo sie mit dem Kaufmann und Frühwitwer Gerald Elbsteiner in einem vornehmen Hause in Blankenese mit unverbautem Blick auf die Elbe wohnte. Sie hatte den fünf Jahre älteren Kaufmann vor vier Jahren auf einer zweiwöchigen Kreuzfahrt durchs Mittel- und Schwarze Meer kennengelernt und vor drei Jahren geheiratet. Gerald Elbsteiner hatte zwei Töchter aus erster Ehe, von denen Eleonore, die ältere, mit einem Amerikaner verheiratet in Houston und Alaine, die jüngere, unverheiratet mit einem Maler des gleichen Alters in Südfrankreich zusammenlebte. Die Mutter war, wie sie es immer war, um den Gesundheitszustand ihres Sohnes sehr besorgt. Der Kontakt zwischen Mutter und Sohn war von jeher eng. So gehörte der tägliche Anruf zur Routine, der von beiden Seiten erwünscht war, aber häufiger von der Mutter als vom Sohn ausging. Diesmal bestand die Mutter darauf, dass sich Boris von einem Spezialisten untersuchen lassen solle, weil der Husten, der härter war als sonst und das Telefonieren störend attackierte, länger anhielt als gewöhnlich, was für seine Konzerte äußerst lästig sei. “Deine häufigen Erkältungen mit dem Husten hast Du von deinem Großvater geerbt.” Das sagte Anna Friedrike jedesmal zu ihrem Sohn, wenn er hustete, und verwies dabei auf die anfällige Lunge, wie sie es nannte, und auf ihren Vater, Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, den Prediger von Breslau, der nach dem verlorenen Weltkrieg eine Stelle als Prediger nicht mehr fand und als Predigerersatz Lehrer für Deutsch, Geschichte und Geographie an der Ernst Thälmann-Grundschule in Bautzen war, um sich und die Familie am Leben zu halten. Manchmal sprach Anna Friederike Elbsteiner, geborene Dorfbrunner, von der Immunschwäche, die bei ihrem Vater von dem praktischen Arzt Dr. Bodenbrecht diagnostiziert und als Ursache für die erhöhte Anfälligkeit der Luftwege für Bakterien und Viren der verschiedensten Arten angesehen wurde.
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