Diese “Immunschwäche” hatte sich bei Boris Baródin wegen der ständigen Erwähnung vonseiten der Mutter, selbst bei dem leisesten Husten, den er nicht unterdrücken konnte, wenn er mit ihr telefonierte, ins Hirn festgesetzt. Sie hat wie eingemeißelt einen festen Platz im Hirn eingenommen, und bei jeder Erwähnung schüttete er im Stoß sein Adrenalin aus und bekam einen roten Kopf, für den er sich schämte, auch wenn es die Mutter am anderen Ende der Leitung in dem vornehmen Bürgerhaus in Blankenese mit dem ungetrübten Blick auf die Elbe weder sehen noch die Schweißabsonderung in ihrer Geruchsschärfe riechen konnte.
Bei dem Telefonat teilte Boris der Mutter mit, dass er einen Brief von Vater Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dem ehemaligen Bautzener Stadtkommandanten der Roten Armee, erhalten habe. Der Brief sei von der Krim abgeschickt worden, wo der Vater in einer Datscha für die hohen Offiziere einen mehrwöchigen Urlaub verbringe. Er schrieb, dass er geschieden sei und mit einer jüngeren Lettin, die er in Leningrad kennengelernt hat, zusammenlebe. Seine Gesundheit sei seit dem tragischen Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die Tschechoslowakei angeschlagen. Er leide unter Kopfschmerzen und einem hohen Blutdruck, habe sich vor zwei Monaten wegen eines blutenden Magengeschwürs einer Notoperation in Moskau unterziehen müssen. Ilja Igorowitsch freue sich auf das Brahms’sche Klavierkonzert, dass sein Sohn mit der Moskauer Philharmonie spielen werde. Er selbst habe sich in seiner Jugend an diesem Konzert probiert, es aber seiner spielerischen Schwierigkeit wegen bald wieder zur Seite gelegt. Anna Friederike sprach immer mit tiefer Empfindung von Ilja Igorowitsch und kam ins Schwärmen, wenn sie von seinen musikalischen Exkursionen auf dem Flügel in Bautzen erzählte. “Er ist ein gebildeter und hoch musikalischer Mensch”, pflegte sie zu sagen, wenn die Rede auf seinen Vater kam.
Boris hatte seine Zweifel, ob seine Mutter eine glückliche Ehe mit Gerald Elbsteiner führe. Sie erwähnte lediglich, dass er ein tüchtiger Geschäftsmann sei und vor einigen Wochen bei einer Auktion in Paris einen Seurat für 37 tausend DM ersteigert habe. Auch sei die Renovation des Hauses fast abgeschlossen, das diesmal einen hellbraunen Außenanstrich bekommen habe. Mehr ließ Anna Friederike über ihr Privatleben nicht verlauten. Er hatte seine Vermutung, dass Wesentliches nicht ausgesprochen wurde, was sich in ihr angesammelt hatte. Doch wollte er da nicht hinein fragen, um ihr nicht noch einen Schmerz zuzufügen. So ließ er es bei der Frage nach ihrer Gesundheit bewenden, wie er es bei den Telefonaten in den letzten Monaten schon tat. Auf diese Frage erklärte Anna Friederike auch diesmal, dass sie sich bis auf gelegentliche Schlafstörungen, die sie auf das feuchte Klima in der norddeutschen Bucht schob, gesund fühle. Nachdem Boris seiner Mutter versprach, einen Spezialisten wegen seiner anhaltenden Erkältung aufzusuchen, wurde das Gespräch beendet.
Er ging in die Küche, brühte chinesischen Kräutertee auf, gab eine Löffelspitze Ingwer in die gefüllte Tasse, kehrte zum Flügel zurück und setzte die Tasse auf den Tisch mit den Notenbergen, der in Reichweite links neben der Klavierbank stand. Die ersten Takte aus der Kadenz im ersten Satz waren gespielt, als es an der Tür läutete. Boris ließ es dreimal klingeln, weil er sich nicht in der Verfassung fühlte, irgendeinen Besuch zu empfangen. Der rote Schal war über der Stirn schweißdurchnässt, als er sich nach dem dritten Klingelzeichen erhob, noch einen Schluck Tee aus der Tasse nahm und zur Tür ging. Es war Claude, ein begabter Schüler, den er seit fünf Jahren unterrichtete. Claude stand aufgeregt vor der Tür. Boris führte ihn ins Musikzimmer, sein Arbeitszimmer. Sie setzten sich in die beiden schmalen Sessel in der kleinen Klubecke, die dem Flügel gegenüber neben dem hohen Fenster war. Boris bot ihm vom chinesischen Kräutertee an, den sich Claude, der blass im Gesicht war, wortlos einschenken ließ. Olga, seine junge Freundin, eine russische Emigrantin aus Leningrad, die seit zweieinhalb Jahren ohne deutschen Pass in der Bundesrepublik lebt, sei von einem Dealer in einem dunklen Hausflur in Wedding zusammengeschlagen worden, weil sie ihm das Heroin, das sie von ihm vor einer Woche bezogen hatte, nicht zahlte, weil ihr das Geld fehlte. Sie liege mit einem geschwollenen Gesicht, Hämatomen über der Brust und Hautschürfungen an Hals und den Armen im Bett. “Sie soll Anzeige bei der Polizei erstatten und sich von einem Arzt behandeln lassen.” Das war der Vorschlag von Boris, den er dem begabten Schüler mit allem Nachdruck gab. Claude schüttelte den Kopf: “Zur Polizei kann Olga ohne Pass oder Aufenthaltsgenehmigung nicht gehen. Da kommt sie als Emigrantin ohne Papiere gleich in die Zelle und auf die Liste der Illegalen, die nach Russland wieder abgeschoben werden.” Boris wischte sich den Fieberschweiß von der Stirn: “Dann kann sie also gar nichts machen, sondern nur darauf warten, dass sie wieder zusammengeschlagen wird.” “So ist es”, bemerkte Claude mit blassem Gesicht, in dem die Augenlider zuckten.
Boris spürte, dass zwischen Claude und Olga eine engere Beziehung war. Eine Gleichgültigkeit gegenüber der illegalen russischen Emigrantin Olga Zerkow gab es nicht. Eine solche, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft verbreitete Einstellung war hier nicht erwünscht und auch nicht zulässig. Dafür hatten beide, Lehrer und Schüler, Boris Baródin und Claude Zerbal noch den Anstand vor dem Menschen im Allgemeinen und das Mitgefühl zu dem Menschen, der in Not geraten war, im Besonderen, wenn auch bei Claude noch etwas anderes, etwas Persönliches dazukam. “Was können wir dann tun?”, fragte Boris und wischte sich den Schweiß von der Stirn. “Das weiß ich auch nicht”, erwiderte Claude mit dem nervösen Augenzwinkern. Dann sagte er besorgt: “Der Kerl, der Türke, wird wiederkommen und das Geld eintreiben, und wenn es mit Prügel ist. Doch ich habe das Geld nicht, um es Olga zu geben, um sie freizukaufen.” “Wieviel muss sie denn zahlen?”, fragte Boris, einen Schluck kalten chinesischen Tee aus der Tasse trinkend. Dabei sah er in das ratlose Gesicht von Claude, der den Freikauf von Olga aus eigener Tasche nicht bewältigen konnte. “Die Summe ist auf etwa 900 DM angelaufen”, sagte Claude mit leiser, besorgter Stimme. “Das Geld kann ich dir geben, aber erst morgen, weil ich es von der Bank holen muss”, sagte Boris. “Seit wann nimmt Olga denn Drogen?”, fragte er. Sie beschafft das Heroin für einen Bekannten, der versprochen hat, ihr eine zurückdatierte Aufenthaltsgenehmigung zu beschaffen, damit sie damit einen deutschen Pass beantragen kann”, antwortete Claude. Boris machte ein ernstes Gesicht: “Dann hat sich Olga von diesem Typen abhängig gemacht. Die ganze Sache ist sehr dunkel und wird eines Tages entdeckt werden. Dann kommt eine harte Strafe auf beide zu und Olga wird, weil sie illegal in Berlin ist und mit dem Betrug eine zweite Straftat begangen hat, sofort und unwiderruflich in ihr Heimatland abgeschoben, wo sie das zweite Mal und wahrscheinlich noch härter bestraft wird.” Die Hände von Claude zitterten. Sein Gesicht wurde aschfahl, als er mit leiser Stimme sagte, wobei er sich in unregelmäßigen Abständen verschluckte, dass Olga eine Halbwaise sei. Ihr Vater war Soldat in der Roten Armee und kam bei einer Militärübung ums Leben. Die Mutter habe eine Lungentuberkulose, die sich trotz Medikamente nicht bessert. Sie arbeite in einer Blumenbinderei und verkaufe zweimal in der Woche Blumen auf dem Markt, um sich mit dem kleinen Erlös am Leben zu halten, wobei das Geld zum Teil für die Medikamente draufgehe. Die Mutter habe ihr zur Emigration in die Bundesrepublik geraten, damit sie sich hier ein besseres Leben aufbauen könne. Sie sagte: “Hier haben wir keine Zukunft. Mich wird die Tuberkulose vertilgen, und du sitzt dann alleine da. Helfen wird dir hier keiner.”
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