Boris machte ein betroffenes Gesicht. Er wusste, dass viele Mädchen aus den Ländern des Ostblocks unter falschen Versprechungen in die Bundesrepublik eingeschleust und hier in die Prostitution getrieben werden. Der Traum vom besseren Leben weicht schnell der Erkenntnis vom Höllendasein, wenn sie in totaler Abhängigkeit ohne oder mit gefälschten Papieren in erbärmlichen Unterkünften leben und machtlos den oft brutalen Geschäften und Machenschaften ausgeliefert sind. Da müssen sie sich Prügel und Vergewaltigungen wehrlos gefallen lassen. Dagegen können sie nichts machen. Denn die einzige Alternative ist das Abschieben durch die Behörde wegen des illegalen Aufenthalts. Und das fürchteten sie am meisten, in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden. So nehmen sie das rechtlose, unmenschliche Sklavenleben, als “heiße” Ware im Dschungel des blühenden Sexgeschäfts verkauft zu werden, ohne ein Widerwort hin. Unter den miserabelsten Bedingungen in der Bundesrepublik lassen sie sich im Wissen der totalen Abhängigkeit von den Bossen und Zuhältern deren willkürliche Misshandlungen gefallen.
In seiner Sprachlosigkeit ging Boris zum Flügel und spielte den zweiten Satz, das d-Moll ‘Allegro appassionato’. Er drückte das Gefühl des Schmerzes “brahmsisch” in die Tasten. Der Schweiß tropfte von der Stirn, weil er sich das Stirntuch nicht umgebunden hatte. Der Weltschmerz tönte in weiten elegischen Bögen. Im Wechsel zwischen Dur [F; B] und Moll [d; g] war die Atmung der Welt zu spüren. “Wunderbar!”, murmelte Claude, der seinen jungen Lehrer ob seiner außergewöhnlichen Musikalität zutiefst bewunderte. Rasch hatte die “Ton-Atmung” den Raum gefüllt, und Boris atmete ihr mal erleichternd heiter, als riss die Wolkendecke auf, mal angestrengt und schwer zu, wenn sich Neues und Schweres in ‘violetten’ Tonfarben ankündigte und sich auf den elegischen Bögen auslegte, auf diesen Bögen wie über eine Brücke von Pfeiler zu Pfeiler zog. Die Brücke, die gesucht und nötig ist, um von einer Seite auf die andere Seite zu kommen, wenn ein Tal, eine Schlucht, ein Abgrund zu überqueren ist. Das Gefühl bedarf der Brücke, um nicht haltlos abzustürzen beziehungsweise sich himmelwärts in Luft aufzulösen. Das Wort im menschlichen Zuspruch weist auf die Brücke mit dem Überschreitbaren, versucht zu sagen, dass nicht alles verloren ist, dass es die Hoffnung und Liebe gibt. Stärker als das Wort, selbst das Wort der größten Zuneigung und des tiefsten Mitempfindens, weil ausgefüllter, harmonietragender, herznäher und gefühlvoller, sprechen die Töne in der vertikalen Verknüpfung der Sept- Non- und anderen Akkorde sowie die horizontalen Reihungen mit den Ausladungen der elegischen Bögen vom tröstenden Dasein der Brücke. Diese Brücke hatte wohl Boris im Sinn, als er im zweiten Teil des Satzes fester die Akkorde mit der linken Hand griff als im ersten Teil. Er träumte und schwitzte beim Spielen. Er verzog die Lippen, hob und senkte den Kopf, aber drehte ihn nicht. “Da kommt die Hoffnung!”, sagte er, und seine Augen begannen zu leuchten vor Erleichterung und Freude. “Da durchatmet die Musik das Leben tief innen. Ist das nicht wunderbar?! Das ist die beste Botschaft, die ich dir heute Abend mitgeben kann”, sagte er und wandte das Gesicht zu Claude in der Klubecke, der von dem Spiel verzaubert war. Da war ihm selbst das Problem mit Olga, das doch ein Existenzproblem erster Güte war, aus dem Kopf entglitten. Auch leuchteten seine Augen, als hätte sich das Problem gelöst, hätte Olga eine ordnungsgemäße Aufenthaltsbescheinung, bräuchte sie nicht mehr den teuren “Stoff” für den Kerl beschaffen, der ihr so große Versprechungen bezüglich der Ausweispapiere gemacht hatte und weiter machte, wenn und solange er den “Stoff” gratis bekam, hätte Olga diesen lästigen Kerl endlich vom Hals, würde ihre Schulden bei dem Türken bezahlen und hätte sich vor ihm und seiner Prügel nicht mehr zu fürchten.
Claude zeigte keine Zeichen des Gehens. Vielmehr saß er regungslos mit verklärtem Blick in der Klubecke und hörte sich noch den ‘Andante’-Satz an. Da ergriff ihn die Sensibilität und Feinheit der tonalen Versetzungen zwischen Dur und Moll mit den elegischen Ausziehungen. Er versuchte die Atmung auf das musikalische Hinundherschwingen abzustimmen, im Ein- und Ausatmen das Bewusstsein zu halten und zu stärken, dass es die Brücke über die Schlucht gibt, an die man sich halten und die man betreten kann, wenn man von der einen Seite zur anderen, von der dunklen zur hellen, von der schwermütigen zur heiteren Seite will ohne den gefürchteten Absturz von Gefühl und Leben. Keiner hätte diese Atmung mit der Sensibilität für Frieden und Sanftheit oder so schwingungsvoll in der Bestimmtheit des Wollens, des Lebenwollens so voll und fein in den Raum gespielt wie Boris, dachte Claude im stillen Staunen. Und Boris spielte mit geschlossenen Augen. Das Notenbuch brauchte er nicht zum Lesen, die Blätter wurden nicht umgeschlagen. Die Finger taten es besser als beim Lesen. So brachte das Spiel die große Botschaft vom Frieden in den Raum, von der Bedeutungsfülle der ruhigen und rhythmischen Atmung. Es war die großartige Offenbarung von der Einmaligkeit mit der weiten Öffnung des Genies.
“Claude, sei mir nicht böse, aber nun muss ich ins Bett; ich fühle mich nicht wohl”, sagte Boris mit verschwitzter Stirn und blickte auf die ruhenden Tasten nach Beendigung des ‘Andante’-Satzes. “Entschuldige, dass ich nicht selber drauf gekommen bin”, erwiderte Claude, der sich aus dem Sessel erhoben hatte, “aber dein Spiel hat mich in eine Welt gehoben, in der ich gerne länger geblieben wäre. Sie war so groß wie die Weite der Frühlingswiese, über der das Blütenmeer in sanften Wellen wog und der frische Duft die Ankunft der Hoffnung verhieß. Du hast die schöne Welt in den Raum gespielt, nach der ich mich sehnte.” “Diese Welt findest du auch in der Beethoven-Sonate, an der du arbeiten sollst. Tu es mit ganzer Hingabe, und die schöne Welt kommt auf dich zu, wird in dir lebendig”, sagte Boris mit einem sanften Lächeln. Darauf meinte Claude, dass es ihm gegenwärtig schwerfalle, sich auf das Klavierspiel zu konzentrieren, solange das Problem mit Olga nicht gelöst sei. “Dabei werde ich dir helfen und tun, was in meinen Kräften steht”, versuchte Boris seinen Schüler zu beruhigen, ihn zur Arbeit an der Sonate zu ermuntern und zu stärken. Denn er war von der musikalischen und technischen Begabung von Claude überzeugt.” “Geh ans Klavier und übe, damit aus dir ein Pianist wird, dessen Spiel die Menschen mit Freude und Begeisterung erfüllt. Doch ins Üben muss Stetigkeit kommen, dann kommt auch der Erfolg.
Bedenke, dass die Welt der Musik nicht nur schöner ist, sie ist durch ihre Herznähe um ein Vielfaches größer als die äußere Welt, in der wir stehen.” Bei dieser Anmerkung der prinzipiellen Art über die Bedeutung des stetigen Übens wischte sich Boris einige Male den Schweiß von der Stirn. Claude hatte ihn wohl verstanden und dankte dem Lehrer für die Ermahnung, aber noch mehr für die Hilfsbereitschaft in Sachen Geld, um Olga's Schulden zu bezahlen. Er verabschiedete sich und wünschte Boris die gute Besserung. “Komm morgen Nachmittag gegen drei; dann habe ich auch das Geld.” Mit diesem Schlusssatz brachte Boris seinen Schüler an die Tür und gab ihm zum Abschied die Hand. Sie fühlte sich heiß und feucht an. Die depressive Stimmung bei Claude entging ihm nicht. Er überging sie, indem er ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter gab und ihn dabei anlächelte, um ihm die Zuversicht mit auf den Heimweg zu geben.
Die Bettlake war nass, als Boris nach einer schlaflosen und durchschwitzten Nacht die Quecksilbersäule herunterschlug und das Thermometer in die rechte Achselhöhle schob. Es waren über 38 Grad Celsius, als er vor dem Versuch des Einschlafens, es war halb elf geworden, die Temperatur gemessen hatte. Er hatte noch einmal eine Tablette zur Fiebersenkung zerkaut und mit Mineralwasser heruntergespült, weil er alles tun wollte, was ihm die Ärztin Dr. Gaby Hofgärtner verordnet hatte. Auch sehnte er sich nach einer ruhigen Nacht, denn seit drei Nächten hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Und zum Fieber kamen die Fieberträume, in denen es nicht nur um technische Fehler beim Vortrag des Klavierkonzertes ging, sondern ihm den Blackout mit dem Verlust der Erinnerung über eine ganze Passage der Kadenz des ersten Satzes ins fiebernde Bewusstsein suggerierte, was ihn stöhnen, dann aufschreien ließ, dass ihn Frau Müller, die freundliche Mieterin in der nächst höheren, der zweiten Etage, besorgt am Morgen, es war vor zwei Tagen, fragte, ob ihm etwas zugestoßen sei. Auch in dieser Nacht wurde er vom Blackout geplagt, diesmal im letzten Satz, dem ‘Allegretto grazioso’, dort, wo der Presto-Schlussteil einsetzt. Da klappte nichts: die Dezimen der linken Hand vergriff er ebenso wie die Oktavläufe und Oktavsprünge der rechten Hand. Diese Träume haben ihn stark mitgenommen. Sie haben ihn verunsichert, ja erschüttert. Am Morgen stand ihm der Angstschweiß im Gesicht. Er fühlte sich gedrückt und unfähig, das große Konzert vorzutragen. Dabei wusste er, dass Musiker unter diesen Alpträumen leiden, auch wenn sie kein Fieber haben, und das meist dann, wenn der Konzerttermin nicht mehr weit ist und immer näher rückt.
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