Boris machte noch eine Runde zur nächsten Konditorei. Er hatte nicht gefrühstückt und freute sich auf ein Stück Apfelkuchen mit Sahne und eine Tasse mit gutem Kaffee. An der zweiten Kreuzung bog er von der Potsdamer Straße ab und betrat nach hundertfünfzig Metern die Bäckerei und Konditorei Pollack. Schon beim Öffnen der Tür kam ihm der köstliche Geruch frisch gebackener Brötchen entgegen. Er ging an die Theke, sah sich die Auslagen an und bestellte sich ein Stück Apfelkuchen mit Sahne und ein Stück Käsekuchen, dazu eine Tasse Kaffee. Die junge Angestellte mit blütenweißer Schürze servierte ihm die Bestellung höflich und geschickt auf den zweiten der drei kleinen Tische mit den kleinen quadratischen Tischplatten, die Platz für zwei Kuchenteller und zwei Tassen, also für jeweils zwei Kunden gaben. Boris nippte an der Tasse mit dem heißen Kaffee, dem ein starkes Aroma entströmte und begann mit dem Apfelkuchen, den er dick mit Sahne bestrich. Der Fensterplatz gewährte einen freien Straßenblick, mit dem er die meist hektisch ablaufende Großstadtszene kurz nach zwölf verfolgte. Die Fußgänger waren in Eile, entweder nach Hause zu kommen und das Mittagessen herzurichten oder Besorgungen zu machen. Kinder kamen aus der Schule, und Mütter holten ihre Kleinen vom Kindergarten,
Der Eismann schob das Dreirad mit dem weißen Kühlkasten auf dem Bürgersteig entlang und schaute nach Käufern, die meist Jugendliche oder eben jene Mütter waren, die ihre Kleinen an der Hand führten beim Gang vom Kindergarten oder mit vollen Plastiktüten vom Einkaufen. Es gab magere und heruntergekommene Menschen, meist Männer, die offensichtlich ohne Arbeit waren und vielleicht auch keine Arbeit suchten, die auf der Straße lebten und sich vom Betteln ernährten. Sie waren schäbig gekleidet. Ihre Gesichter waren unrasiert und vom Wetter gezeichnet, die Haare waren wirr und versträhnt. Die Schuhe waren abgelaufen. Manche hoben abgerauchte Zigaretten auf und steckten sie in die Jackentasche. Andere holten etwas aus den Taschen, ob ein Stück Brot, das sie in den Mund steckten, oder einen ‘Flachmann’, den sie nach Losdrehen des Deckels an den Mund führten. Diese obdachlosen Kreaturen, denen das Schicksal gnadenlos im Nacken saß, waren die einzigen Langsamgänger, wenn von den Liebespaaren und ihren Verfolgern abgesehen wurde, mit denen um diese Zeit, wenn die Sonne statt des Mondes über der Stadt steht, kaum zu rechnen war. Die Langsamgänger der Schäbigkeit waren Menschen, die die Straßenszene aus dem ‘ff’ kannten und jeden Tag neu analysierten, wen der Passanten sie ansprechen und um eine Gabe bitten sollten. Es muss Alkoholisches im Flachmann sein, denn ein stark Heruntergekommener in verwahrloster Kleidung mit versträhntem braungrauen Vollbart, der gerade einen Schluck genommen hatte und den Verschluss der Flasche aufschraubte, schaute mit der Flasche in der rechten Hand durch das Fenster, hinter dem Boris sein Stück Käsekuchen verzehrte, und steckte ihm die belegte Zunge raus. Boris nahm es zur Kenntnis und nahm einen Einblick in den Aussteigermund mit dem ‘asozialen’ Gebiss, das nur wenige Zähne hatte, die eine Zahnbürste nicht sahen und als alte, skurrile, braun verschmierte Ruinenreste übriggeblieben waren. Mit dem ihm vergönnten Einblick in die Höhle der Verwahrlosung machte sich Boris sogleich seine Gedanken über Ursache und Konsequenzen eines Lebens, in dem die Regeln und Sitten einer scheinbar geordneten bürgerlichen Gesellschaft entgleist sind, das ohne Boden und Dach ist für das verwahrloste Dasein, dem die Straße den letzten Halt zum Aufenthalt gibt. Nur so konnte Boris die Sprache der herausgesteckten Zunge aus dem verwahrlosten Mund verstehen, indem er dem Rausstecken die Respektverweigerung mit der Ablehnung und Verachtung einer Gesellschaft zuordnete, die in der politischen Spiegelbetrachtung sich marktschreierisch ausnimmt, dass die Wände wackeln und die Fenster zum Luftholen geöffnet werden müssen.
Die Zeichensprache der rausgesteckten Zunge bei diesem ‘Straßenwesen’ war ein klarer Beleg, dass es mit und in der Gesellschaft nicht stimmte. Nach dem Höhlenblick in den ruinierten Mund schaute Boris dem Mann ins Gesicht mit den rissig–trockenen Lippen zwischen dem versträhnten, braungrauen Bart und den dunklen Augen mit dem trüben Blick unter der zerfurchten Stirn mit der wetterfesten Haut und dem wirren Kopfhaar. Es wurde ihm klar, dass der Flachmann zum permanenten Straßendasein gehörte, denn der Mann schwankte in keiner Weise, war also nicht betrunken. Der Inhalt des Flachmanns, der billige Schnaps, war die Medizin, dieses Dasein von Tag zu Tag neu durchzustehen. Der Inhalt, schluckweise genommen, gab ihm den Mut, die Zeichensprache mit der Zunge zu wagen und mit zunehmender Übung die Skrupel zu überwinden, diese Sprache der ‘besseren’ Gesellschaft gegenüber zu gebrauchen. Daran zweifelte Boris nicht, dass diese Sprache des Draußenseins echt und eindeutig genug war, um selbst von einem Tauben verstanden zu werden. Denn oft, besser gesagt viel zu oft, stellt sich die Gesellschaft gegenüber den Nöten der Armen und Verelendeten taub.
Boris gab dem Mann ein Zeichen, holte eine Zwanzigernote vom Wechselgeld der Apotheke aus der Jackentasche und zeigte es ihm. Darauf ging der Mann vor die Tür der Pollack’schen Bäckerei und Konditorei, während er den Rest Käsekuchen auf den Teller legte, vom Speiseraum zur Tür ging, sie öffnete und den Geldschein dem Mann gab. Der bedankte sich mit einem Diener und entschuldigte sich für die rausgesteckte Zunge. Er sagte: “Das kommt nicht alle Tage vor, dass es Menschen gibt, die durch die Tat helfen. So wolle der Herr bitte verstehen, dass die Zungensprache für mich eine Art Notwehr zur Rettung des letzten Restes der Selbstachtung ist. Denn die Gesellschaft hat für unser Dasein und unsere Probleme weder ein Ohr noch ein Verständnis noch einen Platz. Wir haben die Achtung und Beachtung durch die Straße verloren. Ich war gelernter Bauingenieur. Die Firma ging pleite, meine Frau trennte sich von mir, weil sie aus gutem Hause kam und ohne genügend Geld nicht leben wollte. Sie schmiss sich einem Pharma-Vertreter an den Hals, der das genügende Geld brachte. Er heiratete sie, beziehungsweise sie heiratete ihn. Sie leben in Hamburg. Seitdem bin ich für diese Frau gestorben. Von meinem kleinen Besitz ist mir nichts geblieben. Das hat sie mir geradeaus weggepfändet. Nun führe ich ein Leben, das kein Leben mehr ist. Meine Eltern drehen sich im Grabe um. Noch einmal Entschuldigung und vielen Dank.” Boris nickte ihm sein Verständnis zu. Der Mann ging fort, und Boris ging zum Tisch zurück, um den Käsekuchen fertig zu essen. Er bestellte noch eine Tasse Kaffee und sah dem Mann in seiner schäbigen Kleidung gedankenvoll hinterher, als er schließlich in der Menge der Passanten verschwand.
Für Boris war es ein Erlebnis, das ihn ergriffen hatte. Auch er setzte an der Gesellschaft aus, dass sie ungerecht, geistlos und materialistisch sei. Einkommen und Besitz entschieden über Achtung und Stand in der Gesellschaft. Während er bei der zweiten Tasse Kaffee die Verfolgung der Straßenszene wieder aufnahm, traf ihn die zweite Überraschung. Es waren Claude und Olga, die die Straße überquerten und auf die Bäckerei und Konditorei Pollack zugingen. Ob sie ihn am Tisch sitzen sahen, wie er durch’s Fenster auf die Straße sah, konnte Boris mit Sicherheit nicht ausmachen. Sie traten ins Geschäft, gingen auf die Theke zu, als wollten sie etwas kaufen, drehten die Köpfe zum Speiseraum und kamen an den Tisch. “Das ist ja eine Überraschung”, sagte Claude, “dass wir uns hier treffen.” “Setzt euch!”, erwiderte Boris, und die junge Serviererin mit der blütenweißen Schürze stellte den dritten Stuhl an den Tisch.
“Was treibt euch denn her?”, fragte Boris mit dem Quantum Neugier, wie es mit Olga weitergegangen ist, und wie es um sie steht. “Hunger ist’s, der uns hierher trieb”, antwortete Claude. “Für eine warme Mahlzeit im Restaurant reicht das Geld nicht”, erklärte er schlicht. Es war eine Erklärung, die keine Erläuterungen brauchte. “Dann bestellt euch einen Apfelkuchen mit Sahne und einen Käsekuchen. Die kann ich euch empfehlen und lade euch zum Kuchenessen ein”, sagte Boris. Dabei blickte er in das melancholische Gesicht von Olga mit den slawischen Merkmalen der betonten Jochbögen im fast quadratischen Gesicht mit den dunkelbraunen Augen, den leicht abstehenden Ohren und dem flachen Hinterkopf. Er gab die Bestellung für die beiden auf. Dazu bestellte er für jeden eine Tasse Kaffee. Claude bemerkte die Aufmerksamkeit, die Boris seiner Freundin gab. Da wollte er vermitteln. “Es hat sich seit gestern nichts Neues ereignet, was zu berichten wäre”, sagte er im ruhigem Ton. Doch entging Boris nicht das nervöse Zwinkern der Augen. Olga scheute sich, Boris ins Gesicht zu sehen. Sie hielt ihren Blick auf den Tisch gerichtet und schwieg. Sie schwieg auch, als Claude erwähnte, dass der türkische Dealer hinter ihnen beziehungsweise dem ausstehenden Geld her sei. Olga hielt ihren Blick auf den Tisch gerichtet, als Boris sagte, dass er im Anschluss zu seiner Bank, der Dresdner, gehen werde, um das Geld zu beschaffen. Die beiden aßen die Kuchen mit Heißhunger, dass Boris sie fragte, ob er noch Kuchen bestellen solle. Olga enthielt sich der Aussage, während Claude mit zwinkerndem Blick zugab, dass er noch ein Stück vertragen könnte. Boris gab der jungen Serviererin ein Zeichen, die an den Tisch kam, die Bestellung entgegennahm, zur Theke ging und drehenden Fußes zwei Teller mit Käsekuchen brachte. Boris, der die Verfolgung der Straßenszene dann fortsetzte, als sich die beiden ein Kuchenstück in den Mund schoben, dachte über die Welt, die beiden und sich selbst nach. Er fragte sich, was die Zukunft für alle und für ihn im Besonderen bereithält. Er tat es still, um den beiden das Kuchenessen nicht zu vermiesen und in seiner Meditation aus dem Blickwinkel der Straße und ihrer nicht immer nachvollziehbaren Hektik weder anzuecken noch angeeckt zu werden.
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