Helmut Lauschke
Die Baródins
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut Lauschke Die Baródins Roman Dieses ebook wurde erstellt bei
Von der frühen deutschen Nachkriegszeit aufwärts Von der frühen deutschen Nachkriegszeit aufwärts Roman Die Namen der Personen, Orte und Einrichtungen sind erfunden. Hatte Vater recht oder unrecht? Konnte man hier überhaupt schlafen? War es nicht gefährlich, seine Wachsamkeit auch nur einen Lidschlag einschläfern zu lassen, wo der Tod jede Sekunde zupacken konnte? So dachte ich, als ich den Ton einer Violine hörte. Den Klang einer Geige in der stockfinsteren Baracke, wo die Toten auf den Lebenden lagen. Wer war der Narr, der hier, am Rande seines eigenen Grabes, Geige spielte? Es musste Juliek sein. Er spielte einen Satz aus dem Beethoven-Konzert. Nie hatte ich so reine Töne vernommen. Und in solcher Stille! Es herrschte vollkommene Dunkelheit. Ich hörte nur die Geige, und es war, als diene Julieks Seele als Bogen. Er spielte sein Leben. Sein ganzes Leben glitt über die Saiten. Seine begrabene Hoffnung, seine veraschte Vergangenheit, seine erloschene Zukunft. Er spielte, was er nie mehr spielen würde. Ich werde Juliek nie vergessen. Wie könnte ich ein Konzert vergessen, das vor Sterbenden und Toten gegeben wurde! Noch heute, wenn ich Beethoven höre, schließen sich meine Augen, und der Dunkelheit entsteigt das bleiche traurige Antlitz meines polnischen Kameraden, der von einer Hörerschaft Sterbender Abschied auf der Geige nahm. Ich weiß nicht, wie lange er spielte. Als ich bei Tagesanbruch erwachte, erblickte ich Juliek, der mir gegenüber verkrümmt dalag, tot. Neben ihm lag seine Violine, zertreten, zertrampelt, eine kleine, wunderliche, erschütternde Leiche. (Nach dem langen Marsch der ausgezehrten Häftlinge durch die Nacht bei dichtem Schneefall von Auschwitz nach Gleiwitz wegen Evakuierung des Lagers vor Ankunft der Roten Armee) Elie Wiesel: “Die Nacht zu begraben, Elischa”
Boris Baródin, der Pianist
Der Flug nach Warschau
Der Besuch bei Frau Lydia Grosz
Eine deutsch-polnische Liebesbeziehung
Die Aufführung des Brahms-Konzertes in Warschau
Die Begegnung mit dem Vater in Moskau
Der Traum und aus dem Leben
Der Konzertabend in Moskau
Besuch im Heim für hirngeschädigte Kinder
Rückflug mit Zwischenstation in Warschau
Der Tod des Ilja Igorowitsch Tscherebilski
Das Gespräch mit dem Sachbearbeiter Wilhelm vom Drogendezernat
Zum Begräbnis von Ilja Igorowitsch Tscherebilski nach Moskau
Der Klavierabend mit den Schülern
Auf dem Weg zur jungen Familie
Die letzten Tage des Boris Baródin
Björn Baródin, der Arzt und Psychiater
Mutters Geburtstag
Das medizinische Staatsexamen
Die Assistentenzeit
Der plötzliche Tod von Professor Kretschmar. Der neue Chef – ein Formatabrutsch
Ortswechsel
Das erweiterte Privatleben und das tragische Ende von Professor Reuter
Zwischenfall mit Kopfplatzwunde – “Buddenbrooks’ kleine Malschule” und die “holsten’schen” Musikabende
Die letzte Station
Die Vorstellungsrunde und die klinischen Aktivitäten
Die ersten “Nordlichter” im Malen und Musizieren, “Ludwig van Beethoven, der zweite”
Im Gang der Zeit
Epilog
Impressum neobooks
Von der frühen deutschen Nachkriegszeit aufwärts
Roman
Die Namen der Personen, Orte und Einrichtungen sind erfunden.
Hatte Vater recht oder unrecht? Konnte man hier überhaupt schlafen? War es nicht gefährlich, seine Wachsamkeit auch nur einen Lidschlag einschläfern zu lassen, wo der Tod jede Sekunde zupacken konnte? So dachte ich, als ich den Ton einer Violine hörte. Den Klang einer Geige in der stockfinsteren Baracke, wo die Toten auf den Lebenden lagen. Wer war der Narr, der hier, am Rande seines eigenen Grabes, Geige spielte?
Es musste Juliek sein. Er spielte einen Satz aus dem Beethoven-Konzert. Nie hatte ich so reine Töne vernommen. Und in solcher Stille! Es herrschte vollkommene Dunkelheit. Ich hörte nur die Geige, und es war, als diene Julieks Seele als Bogen. Er spielte sein Leben. Sein ganzes Leben glitt über die Saiten. Seine begrabene Hoffnung, seine veraschte Vergangenheit, seine erloschene Zukunft. Er spielte, was er nie mehr spielen würde.
Ich werde Juliek nie vergessen. Wie könnte ich ein Konzert vergessen, das vor Sterbenden und Toten gegeben wurde! Noch heute, wenn ich Beethoven höre, schließen sich meine Augen, und der Dunkelheit entsteigt das bleiche traurige Antlitz meines polnischen Kameraden, der von einer Hörerschaft Sterbender Abschied auf der Geige nahm.
Ich weiß nicht, wie lange er spielte. Als ich bei Tagesanbruch erwachte, erblickte ich Juliek, der mir gegenüber verkrümmt dalag, tot. Neben ihm lag seine Violine, zertreten, zertrampelt, eine kleine, wunderliche, erschütternde Leiche.
(Nach dem langen Marsch der ausgezehrten Häftlinge durch die Nacht bei dichtem Schneefall von Auschwitz nach Gleiwitz wegen Evakuierung des Lagers vor Ankunft der Roten Armee)
Elie Wiesel: “Die Nacht zu begraben, Elischa”
Boris Baródin, der Pianist
Musik, Begegnungen, Hilfe zur Befreiung aus der Drogenszene
Boris Baródin saß am Flügel in der Knesebeckstraße 17 in Berlin-Charlottenburg. Es war ein regnerischer Herbstabend. Seit Wochen regnete es, und Boris hatte sich für sein nächstes Konzert vorzubereiten, dass er in Warschau und danach in Moskau zu geben hatte. Für die Vorbereitung blieben ihm noch knapp zwei Wochen. Er hatte sich bei seiner Asientournee eine Erkältung mit heftigen Hustenattacken zugezogen, die ihn hartnäckig in Mitleidenschaft nahmen. So saß er mit erhöhter Temperatur am Flügel und probte die schwierigen Passagen am B-Dur, dem zweiten Brahms’schen Klavierkonzert, Opus 83. Damit das Schwitzwasser nicht auf die Tasten tropfte, hatte er den roten Seidenschal, rot war seine Lieblingsfarbe, zusammengerollt über die Stirn gebunden und die Enden über dem Hinterkopf verknotet. Die Medikamente zur Fiebersenkung und Hustenbekämpfung, die ihm die Hausärztin, Dr. Gaby Hofgärtner, vor einer Woche verschrieben hatte, schienen trotz regelmässiger Einnahme nur wenig zu helfen. Boris hatte deshalb um einen neuen Termin gebeten, den er aufgrund seiner beruflichen Besonderheit für den nächsten Tag, einem Freitag für elf Uhr bekam, bei dem er die Ärztin bitten wollte, ihn gründlich zu untersuchen, um etwas Ernsthaftes auszuschließen, was die Ursache sein könnte, dass sich die Rekonvaleszenz über das normale Maß hinaus verzögerte. Denn eine Erkältung mit Husten war für ihn nicht ungewöhnlich, wenn er in den Monaten des verspäteten Sommers und früh einsetzenden Winters auf Konzertreisen war.
Die “Immunschwäche” hatte sich bei Boris wegen der ständigen Erwähnung vonseiten der Mutter, selbst bei dem leisesten Husten, den er nicht unterdrücken konnte, wenn er mit ihr telefonierte, fest ins Hirn gesetzt. Bei jeder Erwähnung schüttete er im Stoß sein Adrenalin aus und bekam einen roten Kopf, für den er sich schämte, auch wenn es die Mutter am anderen Ende der Leitung in dem vornehmen Bürgerhaus in Blankenese mit dem ungetrübten Blick auf die Unterelbe weder sehen noch die Schärfe der vermehrten Schweißabsonderung riechen konnte.
Beim letzten Telefonat teilte Boris der Mutter mit, dass er einen Brief von seinem Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dem ehemaligen Bautzener Stadtkommandanten der Roten Armee, erhalten habe. Der Brief sei von der Krim abgeschickt worden, wo der Vater in einer Datscha für hohe Offiziere einen mehrwöchigen Urlaub verbringe. Er schrieb, dass er mit einer jüngeren Lettin, die er in Leningrad kennengelernt habe, zusammenlebt. Seine Gesundheit sei seit dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die Tschechoslowakei angeschlagen. Er leide unter Kopfschmerzen und einem hohen Blutdruck, habe sich vor zwei Monaten wegen eines blutenden Magengeschwürs einer Notoperation in Moskau unterziehen müssen. Vater Ilja Igorowitsch freue sich auf das Brahms’sche Klavierkonzert, dass sein Sohn mit der Moskauer Philharmonie spielen werde. Er selbst habe sich in seiner Jugend an diesem Konzert probiert, es aber seiner technischen Schwierigkeiten wegen wieder zur Seite gelegt. Anna Friederike sprach immer mit tiefer Empfindung von Ilja Igorowitsch und kam ins Schwärmen, wenn sie von seinen musikalischen Exkursionen am Flügel in Bautzen erzählte. “Er ist ein gebildeter und hoch musikalischer Mensch”, pflegte sie immer zu sagen, wenn die Rede auf seinen Vater kam.
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