Claude und Olga begleiteten Boris zur Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank. Sie nahmen, da die Zeit vorbeigeeilt war, ein Taxi. Sie hatten nur wenige Meter zur Bank. Ein austretender Kunde hatte die Tür geöffnet und hielt sie denen offen, die im Begriff waren, einzutreten. Olga stand hinter Boris und sagte “am Schalter links”. Offenbar hatte sie den jungen Angestellten mit dem Namen “Rudolf” hinter diesem Schalter erkannt, der mit dem Geldzählen beschäftigt war, so dass er Olga am Eingang nicht sah, die sich hinter dem Rücken von Boris versteckt hielt. Boris ging auf den linken Schalter zu und stellte sich in die Reihe der Wartenden. “Rudolf” hinter dem Schalter machte einen sympathischen und hellen Eindruck. Er bediente die Kunden freundlich und schnell. Ihm ging die Arbeit mit dem Geld, den entgegengenommenen Schecks und den Formularen flott von der Hand. Boris konnte sich gar nicht vorstellen, dass dieser junge, gut gekleidete Mann mit dem olivgrünen Schlips ( grün als Logofarbe dieser Bank ), dem sympathisch-freundlichen Auftreten und der zügig-flotten Kundenbedienung zu jenen Entgleisten gehörte, die zur Droge griffen. Vor ihm stand eine junge Frau der Mittdreißiger, die diesem “Rudolf” schmeichelte, als sie ihm sagte, wie gut ihm der sandfarbene Anzug mit der olivgrünen Krawatte stünde. Sie erntete für das Anziehkompliment ein dürftiges “Danke, sehr freundlich”, während er die Geldnoten zählte und vor ihr hinblätterte, die Scheine mit den Wasserzeichen und den anderen Vorkehrungen je nach eingedruckter Zahl geordnet, die dreistelligen rechts und die zweistelligen links. Die Dame grüßte den Angestellten beim Verlassen des Schalters, nachdem sie die Geldscheine in ihre Handtasche gesteckt und die Verriegelung geschlossen hatte. “Rudolf” wünschte ihr einen schönen Tag.
Nun war Boris an der Reihe. Er gab sich von der höflichen Seite und hatte der schmeichelnden Frau mehr als nötig Platz gemacht, als sie den Schalter verließ, wobei er ihr kurz nachblickte, zum Ausgang sah, um sicher zu sein, dass Claude und Olga nicht zu sehen waren. Er hielt den ausgefüllten Scheck über zweitausend DM in der Hand, als er die Probe aufs Exempel startete: “Guten Tag! Haben sie einen schönen Namenstag gefeiert?” “Wie kommen sie darauf?” “Gestern war doch der Namenstag von Rudolf. Oder sind Sie vielleicht nicht katholisch?” “Katholisch bin ich schon, aber mein Name ist Eberhard.” “Dann entschuldigen Sie bitte, ich dachte, ihr Name sei Rudolf.” “Was kann ich für sie tun?” “Drei Dinge: erstens den Scheck einlösen; zweitens mir sagen, wieviel auf meinem Konto ist; drittens benötige ich ein kurzfristiges Darlehen, wobei ich mein Konto überziehen möchte.” “Fangen wir mit Punkt ‘zwei’ an”, schlug der Bankangestellte Eberhard, alias Rudolf, vor. “Das ist mir auch recht”, erwiderte Boris zufrieden, dass er in der Sache ‘Olga’ einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan hatte. Der Bankangestellte tippte die Kontonummer in den Computer: “Auf ihrem Konto sind fünftausendsiebenhundertsechsundreißig DM.” “Dann lösen Sie bitte erst einmal den Scheck ein.” Eberhard, der freundliche junge Mann schien keinen Verdacht geschöpft zu haben, als er die Summe in Hunderter Noten auf die Schalterplatte hinblätterte. “Wie hoch soll der Kredit sein?”, fragte er, als Boris die Scheine in die rechte Hosentasche schob. “Fünfunddreißigtausend soll er sein.” “Aber Sie können das Konto nur bis fünfundzwanzigtausend DM überziehen.” “Das hilft mir aber nicht.” “Dann müssen Sie bitte mit dem Filialleiter sprechen, denn der von ihnen gewünschte Betrag überschreitet meine Kompetenz.” “Da darf ich Sie bitten, mich bei ihrem Filialleiter anzumelden.” “Einen kleinen Augenblick, ich versuche Herrn Groß, unseren Filialleiter zu verständigen.” Der Bankangestellte verließ für Minuten den Schalter und ging in die hinteren Gefilde, wo sich die Schreibtische gegenüberstanden. Dann bog er links ab und war nicht mehr zu sehen. Er kam mit dem Filialleiter zum Schalter zurück, wo Herr Groß den Kunden Boris Baródin begrüßte und ihn zu einem vertraulichen Gespräch in sein Büro bat.
“Kommen Sie bitte da rechts entlang, Herr Baródin, ich komme ihnen entgegen”, sagte der Filialleiter. In dem schmalen Gang rechts neben dem Schalter öffnete Herr Groß elektronisch die Sicherheitsverriegelung und dann die Tür mit der dicken Mattglasfüllung. Er begrüßte den Kunden mit Handschlag und den Worten: “Es ist schön, dass wir uns persönlich kennenlernen”. “Ganz meinerseits”, erwiderte Boris, als sie auf dem Gang zum Büro des Filialleiters waren. Herr Groß gab dem Kunden den Vortritt in sein Büro, bot ihm den gepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch an, schloss die mit Mattglas gefüllte Tür und nahm seinen Platz auf der anderen Schreibtischseite im schwarzledernen, gepolsterten Schreibtischstuhl auf Rollen mit hoher Rücklehne und gepolsterten Armlehnen ein.
“Was kann ich für Sie tun?” Freundlich wie geschäftstüchtig kamen die Worte des zurückgelehnten Leiters der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank über die aufgeräumte und polierte Schreibtischplatte. “Wie mir Herr Kleinert sagte, suchen Sie nach einem kurzfristigen Kredit, den wir ihnen prinzipiell auch gerne einräumen. Da Sie ihr laufendes Konto damit belasten, wenn sie auch den Kredit nach kurzer Zeit zurückzahlen möchten, wird die Überziehungsgrenze dennoch überschritten. Das wiederum überschreitet die Kompetenz von Herrn Kleinert, der Sie deshalb an mich verwiesen hat.” “Das verstehe ich”, sagte Boris mit ernstem Gesicht, “aber mir geht es gar nicht um einen Kredit. Ich komme wegen einer ganz anderen Sache, die für Sie als Filialleiter wahrscheinlich viel schwieriger ist als mir aus dem Bauch der Bank einen Kredit zur Verfügung zu stellen.” “Ach so, dann kommen Sie wegen einer anderen Sache”, wiederholte Herr Groß, der nun aufrecht in seinem gepolsterten Ledersessel saß. “Ja, so ist es, und ich bitte Sie, das Gespräch als vertraulich zu betrachten”, fuhr Boris fort. “Aber das ist selbstverständlich”, sagte der Filialleiter.
Boris: “Die Sache ist folgende: Der junge Angestellte am Schalter, den Sie Herr Kleinert nennen, belästigt beziehungsweise erpresst eine junge Dame, die eine Bekannte von mir ist. Die junge Frau ist eine russische Emigrantin, die ohne Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik lebt. Herr Kleinert versprach ihr, diese Genehmigung zu beschaffen und sie rückwirkend auf den Tag ihrer Einreise zu datieren.” Filialleiter: “Das ist ja unglaublich. Sind Sie sicher, dass es sich hier um Herrn Kleinert handelt?” Boris: “Der Verdacht ist stark, die junge Frau hat ihn am Schalter wiedererkannt, der sich ihr gegenüber als “Rudolf” ausgibt.” Filialleiter: “Das will gar nicht in meinen Kopf, dass Herr Kleinert so etwas tut, der ein freundlicher und kompetenter Mann bei der Arbeit ist. Ich muss es sagen, dass Herr Kleinert einer meiner besten Mitarbeiter ist.” Boris: “Das möchte ihnen allzugern glauben, doch damit räumen Sie, Herr Groß, meinen Verdacht auf vorsätzlichen Betrug nicht aus. Hinzu kommt, dass dieser Herr “Rudolf” – der Filialleiter unterbrach kurz: “der Bankangestellte heißt Eberhard Kleinert” – als Gegenleistung der jungen Frau zur Auflage gemacht hat, ihn bis zur Fertigstellung der gefälschten Aufenthaltsgenehmigung mit Heroin zu versorgen, für das er nicht zu bezahlen hat.” Filialleiter: “Das schlägt ja dem Fass den Boden aus!” Boris: “Sie sagen es! Es ist ein Fass ohne Boden. Da liegen die Folgen der Erpressung mit dem Dilemma der Bezahlungen und des Überlebens auf der Hand. Die junge Frau, die begreiflicherweise ohne Arbeit, ich meine, ohne gesetzlich erlaubte Arbeit ist, pumpt sich das Geld zusammen, um für den “Rudolf” den Stoff zu beschaffen. Ein junger Mann, der ein Schüler von mir ist, hat ihr bislang das Geld gegeben, um sie aus der Misere zu retten. Für die letzten beiden Lieferungen hatte auch er kein Geld mehr. Weil die Zahlungen noch ausstehen, hat der Dealer, ein skrupelloser Türke in Wedding, die junge Frau gestern fürchterlich verprügelt, dass ich, als mir mein Schüler das berichtete, geraten habe, dass sie einen Arzt aufsuchen solle, der die Verletzungen attestiert und sie behandelt.” Filialleiter: “Das hört sich ja schlimm an. Ich kann es gar nicht glauben.”
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