Boris hatte sich beim Spielen in der Welt der Träume und Kindheitserinnerungen, der Wort- und Zeitlosigkeit innerhalb der Musik verloren, wobei er auch “diesseits” ein gutes Stück weitergekommen war, als es an der Tür klingelte. Er ließ es ein zweites und ein drittes Mal klingeln, ging in die Küche und sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach zwei, und ans Essen hat er nicht gedacht. Er schluckte die zweite Penicillin-Tablette des Tages, trank ein halbes Glas abgekochtes Wasser, ging zur Tür, öffnete sie, vor der keiner stand, und drückte den Knopf für den Haustüröffner. Boris empfing Claude und Olga, die verdutzte Augen machten, ihn am Nachmittag im Bademantel anzutreffen. “Haben wir dich aus dem Schlaf geholt?”, fragte Claude. “Nein”, sagte Boris, “ich habe das Anziehen ganz vergessen.” “Typisch Künstler, da gelten andere Regeln”, fügte Claude hinzu. Boris: “Mag sein, dass es so ist, ich weiß es nicht. Ich habe zwei Briefe gelesen und am Brahmskonzert gearbeitet. Da ist mir die Zeit davongeflogen.” Claude: “Ich hoffe, dass wir dich nicht stören. Mir ist klar, dass in deinem Kopf außer den beiden anstehenden Konzerten kein Platz für andere Dinge ist.” Boris: “So ist es, und ich muss nacharbeiten, nachdem der Infekt durch Fieber und Schwitzen und dann noch die Tonsillitis mich von der systematischen Arbeit abgehalten haben. Aber kommt und setzt euch. Ich mache uns einen Tee.” Während Claude und Olga in der engen Klubecke gegenüber dem Flügel ihre Plätze nahmen, verschwand Boris in die Küche, um den Tee anzurichten. “Er ist wieder chinesisch, der hilft mir am besten. Ich hoffe, dass ihr damit einverstanden seid”, sagte er, als er die gefüllten Tassen aus der Küche holte und auf die schmalen, freien Stellen auf dem kleinen Klubtisch setzte, wobei die Untertassen zu einem guten Viertel über die Tischkante herausstanden. “Habt ihr das Geld dem Türken gegeben?”, fragte Boris die beiden und nahm einen Schluck vom heißen Tee aus der Tasse. Olga schaute auf ihre Tasse und nickte mit dem Kopf. Claude brachte ihr Kopfnicken in Worte: “Das Geld haben wir gestern am späten Abend dem Türkenkerl gegeben, nachdem wir fast eine Stunde an der verabredeten Stelle auf ihn gewartet haben. Er hat das Geld unter der Straßenlampe abgezählt und sein Okay für die nächste Lieferung gegeben. Er machte ein blödes Gesicht, als Olga ihm sagte, dass sie das Zeug nicht mehr brauche. Darauf schüttelte er den Kopf und zog ab. Er kam noch einmal zurück und bot den Stoff zum Sonderpreis an. Als ich ihm sagte, dass er das Zeug behalten soll, ist er endgültig gegangen.” Boris: “Dann wäre das mit dem Türken erledigt.” Claude: “Ja, soweit es die Bezahlung des ausstehenden Betrages betrifft.” Boris: “Dann wollen wir hoffen, dass dieser Kerl Olga nun in Ruhe lässt.” Claude: “Das hoffen wir auch.” Boris: “Damit wäre ein Problem gelöst, die eine Seite der Erpressung beseitigt. Jetzt muss mit der anderen Seite, mit dem “Rudolf”, dem Bankangestellten Kleinert aufgeräumt werden. Da hoffe ich, dass die Fahnder vom Drogendezernat bei der Wohnungsdurchsuchung fündig werden und den Stoff mit allem Zubehör als Beweismaterial sicherstellen.”
Obwohl Olga in die Drogenbeschaffung verwickelt war, schwieg sie und hielt ihren Blick gebannt auf den kleinen Tisch mit den übereinander gestapelten offenen Partituren. War es Scheu oder hatte sie noch etwas anderes, was sie verschwieg, dass sie weder Boris noch Claude ins Gesicht sah. Dieser Nachuntenblick war Boris schon in der Bäckerei und Konditorei Pollack aufgefallen, wo sich der Blick an der quadratischen Tischplatte des kleinen Fenstertisches festgeklemmt hatte und dann noch an der Tischplatte hängenblieb, als die Kaffeetassen und leergegessenen Kuchenteller abgeräumt waren. Weil sich Boris ihr Schweigen, das einem Verschweigen nahekam, und ihren gesenkten Dauerblick nicht erklären konnte, fragte er Olga, ob ihr noch etwas zu der für sie folgenreichen und gefährlichen Geschichte einfiele. Sie blickte weiter auf den vollgepackten Klubtisch und ihre Teetasse, drehte den Kopf hin und her und sagte leise, dass ihr nichts weiter einfalle. Das schwächte seinen Verdacht nicht ab, dass sie etwas verschwieg, was zur Lösung des Problems, was ihren unerlaubten Aufenthalt in der Bundesrepublik angeht, von Bedeutung sein könnte. “Die Zukunft wird es zeigen”, dachte Boris und trank seine Tasse aus. “Dann warten wir auf das Ergebnis der Drogenfahnder, ob sie bei dem “Rudolf” fündig geworden sind”, sagte er abschließend zu dem brisanten Vorgang und entschuldigte sich bei Claude, dass er nun am Brahms-Konzert arbeiten müsse, da ihm nicht mehr viel Zeit bis zu den Aufführungen in Warschau und Moskau bliebe.
Claude und Olga verabschiedeten sich, und Claude dankte Boris für die tatkräftige Unterstützung und seine Großzügigkeit mit dem Geld, das er gegeben hatte, damit Olga ihre Drogenschulden bei dem Türken bezahlen konnte. Boris: “Das ist selbstverständlich, dass ich da helfe.” Claude: “Vielen Dank!” Boris: “Nun, wo von Olga der Erpressungsdruck genommen ist, sollst du dich wieder auf das Klavier konzentrieren. Wenn ich aus Moskau zurückkomme, möchte ich einen vierhändigen Klavierabend mit meinen Schülern geben. Da stehen zur Auswahl: Mozart, das Andante mit fünf Variationen in G-Dur [Köchel Verzeichnis 501]; Schubert, die Fantasie Nummer 3 in c-Moll und die Große Sonate in B-Dur [Opus 30]; Beethoven, die Sonate in D-Dur [Opus 6]; Brahms, die Liebeslieder [Opus 52]; Mendelssohn Bartholdy, das Andante und Variationen [Opus 83a]; Reger, die Sechs Walzer [Opus 22] und Bizet, “Jeux d’Enfants” [Opus 22]. Was willst du vortragen? Ich möchte zwei Stücke mit dir spielen.” Claude überlegte einen Augenblick: “Ich möchte den Beethoven und den Mendelssohn mit dir spielen, wenn es dir recht ist.” Boris: “Na gut, mir soll’s recht sein. Dann knöpf dir diese beiden Stücke vor. Die Beethoven-Sonate hat zwei Sätze: das ‘Allegro molto’ und das ‘Rondo moderato’, sie ist technisch nicht so schwierig. Schwieriger sind das ‘Andante und die Variationen’ von Mendelssohn. Da musst du dich dahinterklemmen! Beim Beethoven übernimmst du die rechte Seite, und ich übernehme die rechte Seite beim Mendelssohn. Übe nun fleißig an den beiden Stücken, damit wir nicht zuviel Zeit verlieren, wenn ich aus Moskau zurück bin. Den musikalischen Verstand hast du. Nur üben musst du, und das mehrere Stunden am Tage, damit dein Klavierspiel den Standard erreicht, der für diesen Abend unerlässlich ist. Dein Vortrag muss das nötige Format bekommen, wenn wir uns nicht blamieren wollen. Also übe und das mit Fleiß!” Claude schaute Boris verschämt an: “Ich habe mir deine Worte zu Herzen genommen.”
Nachdem die beiden die Wohnung verlassen hatten, ging Boris ins Bad und betrachtete die Mandeln vor dem Spiegel. Der Heilungsprozess hatte Fortschritte gemacht, die grauweißen Stippchen waren kleiner und weniger geworden. Das gab ihm Auftrieb und Erleichterung, denn beim Spielen zu schwitzen und rumzuhusten, das konnte sich ein Pianist bei der Konzertaufführung nicht leisten. Er ging zum vollgepackten Klubtisch und nahm sich den dritten Brief vor, dessen Umschlag ohne Absender, dessen Marke in Berlin abgestempelt war. Boris entfaltete das Blatt, sah eine saubere Handschrift mit einigen Fehlern und begann zu lesen, das nicht ohne Unbehagen:
Sehr geehrter Herr Baródin!
Ich habe Sie in einigen Konzerten gehört, zuletzt in Hannover, wo Sie Tschaikowsky vorgetragen haben. Sie haben den Klavierpart des Konzerts großartig gespielt. Selten ist mir das Konzert so unter die Haut gegangen, wie bei Ihrem Spiel. Trotz Ihrer nicht zu leugnenden Jugend zählen Sie bereits zu den großen Pianisten der Welt. Ich bewundere Sie aufs Tiefste.
Darf ich Sie um einen Gefallen bitten. Ich habe einen Sohn, der ist zwanzig und möchte die Konzertlaufbahn einschlagen. Er ist ein begabter Junge und ein fleißiger Schüler, ist aber mit seinem Klavierlehrer nicht glücklich, der ihn über Monate mit Etüden hinhält, ohne dass da etwas Großes herauskommt.
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