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Vor dem Berliner Flughafen drängen sich die Fluggäste, einige werden hingebracht, andere werden abgeholt, begrüßt, umarmt, geküsst. Bernhard stellt seinen dauerhupenden Lieferwagen direkt vor der Ankunft ab. Empörte Blicke wegen des Lärms ignoriert er und rennt so schnell wie möglich in die belebte Halle. Ein Japaner, mit zwei Fotoapparaten quer vor der Brust, lächelt typisch japanisch und fotografiert, ebenfalls typisch japanisch. Bernhard schiebt sich suchend durch die Menge. Liest die Anzeigetafel für ankommende Maschinen, fragt an einem Schalter, läuft eilig hinüber zum Meeting Point. Ein dicker Herr mit Glatze sieht ihm erwartungsvoll entgegen. Bernhard bleibt stehen, fixiert ihn, versucht sich zu erinnern, was Tante Rosl zu seiner Frau am Telefon gesagt hat: „Schwarzhaarig!“ Das ist der dicke Herr mit Glatze nun wirklich nicht und auch nicht ´schlank`, das zweite Erkennungsmerkmal für den amerikanischen Schwipp-Schwager. Deshalb dreht sich Bernhard schnell um und rennt eilig zu einem der Telefone. In der Nebenzelle telefoniert bereits der Japaner mit den zwei Kameras auf der Brust. Er lächelt schlitzäugig freundlich zu Bernhard hinüber, aber der hat kein Auge für asiatische Höflichkeit. Er wählt hektisch. Die Nummer ist besetzt. Aufgeregt sieht er auf die Uhr. Späht in die menschenvolle Halle. Der Japaner verlässt jetzt japanisch still vor sich hinlächelnd die Telefonzelle nebenan und geht zum Ausgang. Bernhard versucht erneut den Anschluss zu kriegen. Diesmal hat er Glück. Die Nummer ist frei und Tochter Amelie meldet sich mit dem Versuch eines Scherzes. „Ich nix verstehn, du verstehn?“ Bernhard ärgert sich über die blöde Frage, seinen Vorsatz in Zukunft relaxt zu sein und über den Dingen zu stehen hat er schon wieder vergessen. „Was soll denn der Quatsch, Amelie!“ raunzt er ins Telefon. „Tschuldigung, Papa. Ich hab gedacht es wär noch mal der Onkel Henry, der hat nämlich gerade angerufen …“„Von wo hat er angerufen?“ will Bernhard wissen und erhält kurz und knapp die Antwort. „Was weiß ich. Der hat nur amerikanisch geredet. Wo bist du jetzt?“ „Im Flughafen, wo sonst. Hab ihn irgendwie verpasst“, schnauft Bernhard aufgeregt und muss sich von seiner Tochter sagen lassen „Jetzt lass ihn halt ausrufen, Papa. Mach doch kein Drama draus!“ Bernhard nimmt den guten Rat zur Kenntnis, handelt aber nicht danach, legt wortlos den Hörer auf und rennt aus der Halle. Der VW-Bus im absoluten Halteverbot hat sein quäkendes Hupen inzwischen eingestellt, die Batterie ist am Ende. Dafür klebt ein Ticket wegen Falschparkens an der Windschutzscheibe. Wieder mal kommt für Bernhard eines zum anderen. Da bleibt keine Zeit zu relaxen, man muss aus der Haut fahren. Stinkig reißt er den Strafzettel unter dem Scheibenwischer hervor und klettert ins Fahrzeug. Anspringen will der VW-Bus auch nicht mehr – dafür hat er viel zu viel Strom verbraucht mit seinem nervigen Hupkonzert. Es ist echt zum Heulen.
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Dieses Problem kennt DAS ETWAS allerdings nicht. Woher auch? Menschliche Gefühle, Emotionen, sind der Puppe fremd. Noch fremd! Ruhig und geduldig sieht sie zu, wie eine ältere Frau ihr gestenreich zu erklären versucht, wie man am Fahrkartenautomaten ein Ticket für die U-Bahn löst.
„Es ist sehr schwierig“ erläutert die freundliche alte Dame immer wieder, sie hat selbst Monate gebraucht um das komplizierte Karten-Auswahl-System zu verstehen. „Wissen Sie, früher war das ganz einfach. Man ist eingestiegen in die Trambahn, dann kam der Schaffner oder die Schaffnerin und rief: ‚Herrschaften, die Fahrkarten, bitte!‘ oder: ‚Hast du keinen – kauf dir einen‘! Das war dann natürlich ein Scherz. Und dann hat man ihnen seinen Groschen gegeben, den haben sie in eine kleine Geldwechselmaschine gesteckt, die sie in einem Ledergurt um den Bauch vor sich hertrugen. Und dafür hat man dann den Fahrschein bekommen, der allerdings vorher noch mit einer silbernen Zange durchgeknipst und damit entwertet wurde. Das ganze selbst für Kinder ohne Schwierigkeiten oder Probleme. Einen davon hab ich sogar noch zu Hause … aus der guten alten Zeit“. Und dann lacht die alte Dame in der Erinnerung und wundert sich zugleich, dass das junge Mädchen nicht mit lacht über die doch wirklich komische Episode aus ihrer Vergangenheit. „Ja, früher war alles anders aber nicht unbedingt besser, mein Kind!“ seufzt die alte Dame und kramt in ihrem Portemonnaie nach einer Münze. Eine U-Bahn fährt ein und ehe sich DAS ETWAS versieht, ist die Frau flink wie Wiesel davon geeilt und in einem der letzten Waggons verschwunden. Die Puppe starrt auf die Münze in ihrer Hand, es fällt ihr offenbar schwer einen Zusammenhang zwischen dem Geldstück und einer U-Bahn Fahrt herzustellen. Trotzdem sieht es so aus, als würde sie überlegen, oder versuchen sich an etwas zu erinnern, obwohl diese Gedanken ja rein menschlich sind und ein Roboter Wesen eigentlich nicht über ´Denken` verfügt. Aber einen Speicher besitzt DAS ETWAS und sowas ist einem menschlichen Gedächtnis doch ziemlich ähnlich, bei der Puppe vielleicht sogar ähnlicher als ähnlich. Denn jetzt fixiert sie den Automaten, drückt dann einen der Knöpfe und nun ist auch das unvermeidliche „Dida dadadadidadaaa“ wieder zu hören. Der Automat arbeitet jetzt und spuckt im wahrsten Sinne des Wortes meterweise Papierstreifen aus. Genauer betrachtet sind es Tickets, also Fahrkarten, genug um tagelang, wochenlang vielleicht sogar einen Monat lang kostenlos U-Bahn damit zu fahren. Hinter dem Mädchen hat sich inzwischen eine Warteschlange gebildet, die dem Geschehen erstaunt und mit offenem Mund zusieht. Dann beginnen einige – in Vorfreude auf die kostenlosen Fahrscheine vermutlich - zu klatschen. DAS ETWAS reagiert emotionslos, verteilt wahllos die Fahrscheine offenbar nicht wissend, warum sich die Leute um sie herum so erfreut zeigen.
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Mick ist doch cleverer als Amelie und seine Eltern oft denken. In stundenlanger Arbeit mit dem i-Pad ist es ihm doch tatsächlich gelungen, das Programm von DAS ETWAS zu knacken. Dazu hat er ein heimlich aus dem Netz heruntergeladenes Code-Cracker-Programm benutzt, ihm die eigene Kennung ´Brain 999` verpasst und durch Kombinationen mit einer anonymen Maske erreicht, dass DAS ETWAS jetzt auf Befehle reagiert, die Amelie versucht auf dem i-Pad einzugeben. Das kränkt Mick in seinem berechtigten Stolz weshalb er die Schwester anfährt. „Pfoten weg, du Spasti, du versaust noch alles!“ Amelie reagiert wie gewohnt erst mal beleidigt. „Hallo, geht ´s noch? Das sagt einer, dem wir den ganzen Mist zu verdanken haben“. Doch dann starren beide gebannt auf den großen Fernseher, den Mick an das i-Pad angeschlossen hat, denn dort zeichnet sich ein erster Erfolg ihrer gemeinsamen Bemühungen ab: Durch die Augen der Puppe, man kann es auch den subjektiven Blick nennen, sieht man ein Stadion. Auf der Tartanbahn bewegen sich Läufer. Mick stößt grinsend seine ältere Schwester an und meint versöhnlich „Was guckst´ du, Kleine?! Sport ist Mord! Weiß doch jeder!“ „Weiß sie nicht. Woher denn?“ antwortet Amelie, bemüht eindeutig Partei für DAS ETWAS zu ergreifen, ganz nach dem unter den Mädchen in der Schule heiß diskutierten Motto: Wir Frauen müssen zusammenhalten. Wir Frauen brauchen eine Quote! Wofür denn? Am besten für alles und jedes. Auf jeden Fall in der Politik und in der Wirtschaft und für alle zu besetzenden wichtigen Spitzenpositionen auf der ganzen Welt.
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Im Stadion trabt die Sportlergruppe über die Tartanbahn um sich im Langlauf zu trainieren. DAS ETWAS läuft mit, immer noch im Nachthemd und rückwärts, keine Ahnung warum. Vielleicht weil sie die Sportler und ihr Tun dann besser beobachten kann. Das ist möglicherweise auch der Grund, weshalb die Puppe manchmal schneller, dann wieder langsamer läuft und sich schließlich mitten unter die Sportler mischt, die durch die Rückwärtsläuferin und ihren nackten Po, der aus dem hinten offenen Krankenhaushemd herauslugt, so ziemlich aus dem Rhythmus kommen, worüber sich einige ärgern, andere aber lachen. Sie verjagen schließlich das Mädchen, die irgendwie ratlos zurück bleibt.
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