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Im Schnurre Haus, in Amelies Zimmer, ist die Luft zum schneiden dick, so fühlbar ist die Anspannung von Mick und Amelie. Denn erneut tut sich was auf dem i-Pad. „Da! Daaaa!“ schreit Amelie und tippt aufgeregt mit dem Finger auf den Schirm, was leider einen Fettfleck zur Folge hat. „Was daa?!“ wischt Mick ärgerlich den Fleck wieder weg, „die Puppe latscht über die Straße, ja und?“ „Ist doch süüüß, wie sie geht, wie ein richtiger Mensch, guck doch!“ Aus dem Blick der Puppe ist allerdings etwas anderes zu erkennen. Nämlich, dass die Fußgängerampel gerade ROT hat und man deshalb lieber auf dem Trottoir warten sollte, bis der Verkehr vorbeigerast ist und die Ampel wieder grünes Licht zeigt. Nur woher soll eine fehlgeleitete Schaufensterpuppe das wissen?
Sie kennt offenbar keine Verkehrsregeln und geht einfach weiter, obwohl genau in diesem Augenblick ein alter VW-Bus mit der Aufschrift Schnurres Modelädchen in hohem Tempo heranfährt, in letzter Sekunde versucht auszuweichen, mit quietschenden Reifen bremst, ins Schleudern kommt, die stur geradeaus weiterlaufende Puppe touchiert und zur Seite schleudert. „Von wegen süß“, ist die trockene Stimme von Mick zu hören, „die ist Matsch!“ In Amelies Zimmer starren die Kinder einigermaßen entsetzt auf den i-Pad. Und jetzt erst erkennen sie, was für ein Auto DAS ETWAS angefahren hat. „Boah, Scheiße, Mann! Das ist Papa!“ flüstert Mick und Amelie schreit „Mamaaa! Schnell, unser Auto!“ Sie reißt die Tür auf und schreit nochmal in höchster Not „Mamaaa! Kommm …“ Auf dem i-Pad sieht man, aus der Sicht der am Boden liegenden Puppe, einen sich nähernden Krankenwagen mit Sirene und rot/gelb blinkenden Warnlampen heranfahren. Notarzt und Sanitäter beugen sich über DAS ETWAS, sie tragen Handschuhe und versuchen erste Hilfe zu leisten. Bernhard ist völlig unter Schock, er kann nichts für den Unfall, will dennoch seine Pflicht tun und helfen. Vorsichtig betastet er das Mädchen, sieht das Freundschaftsband an ihrem rechten Arm. Leichte elektrische Entladungen lassen ihn zurückschrecken. Ganz so schlimm scheint es die Puppe aber nicht erwischt zu haben, denn sie richtet sich auf und sagt genau das, was sie gerade abgespeichert hat. „Pfoten weg, ihr Arschlöcher. Das ist meine Kohle!“ Trotzdem wird sie von den einigermaßen verdutzten Sanitätern gepackt und auf eine Bahre verfrachtet. Unbeachtet liegt ihr Ohrring im Straßengraben. Bernhard hebt ihn auf, betrachtet das Teil nachdenklich und steckt es dann in die Hosentasche. Darüber hört man Amelie sagen „Mein Freundschaftsband hat sie noch am Arm! Ich glaub‘ ich dreh durch!“ Im Schnurre Haus schleppt Mick den großen Flachbildschirm aus der Wohnstube hinüber in Amelies Zimmer. Monika hält ihm widerstrebend die Tür auf. „Mit dem Teil ist der Fall übersichtlicher“, meint Mick in der Sprache der weltberühmten deutschen Fernseh-Kriminal Kommissare und fährt wichtig fort. „Übersicht trägt immer zur Klärung des Sachverhalts bei!“ „Was denn für ein Fall?“ mokiert sich Amelie über den Bruder, „ist das vielleicht ein Film in dem wir alle mitspielen?“ „Das ist live!“ sagt Mick stolz über die neu gewonnene Erkenntnis und „Klar spielen wir mit! Das ist was Ähnliches wie ´Versteckte Kamera` oder ´Bauern, Freundschaft und das liebe Vieh`!“ „Unser Schaufenstermädchen ist doch kein Bauer“, widerspricht Amelie in einem Ton, der keinen Widerspruch zulässt. Damit ist der nächste Streit der Geschwister schon vorprogrammiert, weshalb Monika schnell daran erinnert, was jetzt in der Realität ansteht. „Bevor ihr mir Philosophie Unterricht in Sachen Liebe erteilt, darf ich daran erinnern, dass wir gleich Besuch kriegen und noch einiges vorbereitet werden muss. Kleine Hilfen – immer gern. Und Fernsehgeräte, i-Pads und so weiter bitte aus!“ „Wuff!“ macht Crash und zeigt damit deutlich, dass er ebenfalls Bedürfnisse hat. Mit einer Pfote öffnet er die Tür, eine diskrete Aufforderung endlich Gassi zu gehen.
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DAS ETWAS liegt auf einem Operationstisch und wird von weiß und grün gekleideten Damen und Herren, die alle Gesichtsmasken tragen, versorgt. Außerdem haben sie Gummihandschuhe an, genau wie in der Fernseh ´Sachsenklinik`. Eine gründliche Untersuchung steht offenbar kurz bevor. Tatsächlich befinden wir uns in der Havelstein Klink, einem echten und gar nicht mal schlechten Krankenhaus. Dr. Mundfohl, der Stationsarzt und Assistent des Chefs, fühlt dem Mädchen mit bloßen Händen den Puls und erhält einen mächtigen Stromschlag, der ihn stöhnend in die Knie gehen lässt. Prof. Dr. Dr. Havelstein, der Chefarzt und Leiter der Klink zeigt sich überrascht. „Was ist, Kollege. Kreislauf?“ „Die steht unter Strom! Verdammt …“ antwortet Dr. Mundfohl dem Klinik Chef, aber der kann das nicht verstehen und fragt deshalb ungläubig „Wie – unter Strom? Was soll das heißen?“ „Aufgeladen. Hochspannung“ ächzt der Assistenzarzt und richtet sich mühsam wieder auf.
„Unmöglich!“ sagt Prof. Dr. Dr. Havelstein mit der Attitüde des Besserwissers und greift zugleich an die Halsschlagader des Mädchens. Einen Schlag erhält er allerdings nicht denn er trägt, wie es sich für einen richtigen Doktor im OP Saal gehört, ein paar isolierende Gummihandschuhe. Dr. Mundfohl sieht das und zitiert zerknirscht seinen Chef „Regel Nummer Eins: Handschuhe. Ich weiß!“ „Puls okay. Keine äußerlichen Verletzungen. Kernspin. Das Übliche. Merkwürdige Hautstruktur“, diagnostiziert der Professor routinemäßig und während die Mitarbeiter alles für die Untersuchung vorbereiten, winkt Havelstein seinem Assistenten fröhlich zu. „Ergebnisse gleich, muss nur schnell mal telefonieren.“ Dr. Mundfohl betrachtet missmutig seine Handflächen, sie weisen Verbrennungen auf. Aber der Professor bleibt fröhlich jovial, wie die Chefärzte in den Fernsehserien, die immer bestens drauf sind weil sie einen guten Charakter und Humor haben und vor allem immer das Sagen. „Lassen Sie sich versorgen, Kollege!“
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Über die Autobahn fährt holpernd und stotternd und mit gelegentlichem Auspuffknallen der VW Bus mit der Aufschrift Schnurres Modelädchen. Bernhard am Steuer hat sich nach dem Unfall wieder beruhigt und dreht an den Knöpfen des Autoradios. Mit leichten Störungen, weil das Gerät wirklich schon alt ist, hört man den Yankee-Doodle, auch nicht gerade ein Hit aus den hippen Musik Charts. Ein Autobahnschild weist darauf hin, dass der Flughafen nicht mehr weit ist.
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Die Klinik ist wirklich bestens ausgerüstet. Nur mit einem der üblichen Nachthemden bekleidet liegt DAS ETWAS jetzt auf der Intensivstation. Die Puppe ist an mehrere Geräte zur Überwachung aller lebenswichtigen Funktionen angeschlossen. Das sieht irgendwie unheimlich aus, weil außer den Ärzten und dem Pflegepersonal niemand so genau weiß, wofür all die Apparate gut sind.
Einer jedenfalls misst den Puls, oder den Herzschlag, eine Zickzacklinie auf dem Monitor zeigt das optisch an und dazu ist ein ‚Piep‘ Ton zu hören der signalisiert, dass keine Gefahr für den Patienten besteht. Professor Dr. Dr. Havelstein und sein Assistenzart Dr. Mundfohl würden sonst ohne Zweifel sofort reagieren, wenn sich auf den Geräten auch nur die geringste Störung im Befinden der Verunfallten abzeichnen würde. So aber schleichen sie nur um die Patientin herum, die nach dem Unfall offenbar immer noch unter Schock steht und tief schläft. „Was sind das für Besonderheiten, Michael?“ fragt der Professor seinen Assistenten und der, froh in diesem Fall auch mal zu Wort zu kommen, antwortet wie aus der Pistole geschossen. „Also davon abgesehen, Chef, dass das Mädchen eine eigenartige Haut besitzt, könnte sowas wie Silikon sein…“Der Professor unterbricht sofort, er hat das Mädchen nochmal abgetastet, mit Handschuhen ist ja klar, denn er ist Profi in sich selbst und seine Perfektion verliebt und zugleich in seine Reden, deshalb auch die Unterbrechung, denn die Gelegenheit ist günstig sein phänomenales Professoren Wissen wieder mal an den Assistenzart zu bringen. „Hab ich ja von Anfang an diagnostiziert: Hautstruktur rätselhaft. Fühlt sich so ein bisschen an wie Teflonpfannen früher…“ Doktor Mundfohl hat inzwischen dazu gelernt. Deshalb nimmt er all seinen Mut zusammen, wagt es den Vorgesetzten zu unterbrechen und macht zugleich hinterlistig klar, wer von beiden der Ältere ist. „War lange vor meiner Zeit, Professor!“ „Tatsächlich, Sie sehen nicht jünger aus, Kollege.
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