1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Er ist 29 Jahre alt, groß gewachsen, mit dunklen Haaren, Brille und DDR-typischem Schnauzbart. Er hat ein gewinnendes Lächeln, eine diplomatische Ader, aber er lässt sich auch nicht verbiegen. Einige seiner Kollegen haben sich bereits aus Berlin abgesetzt. Sie befürchten, in einer anderen DDR oder gar in einem vereinten Deutschland »zu kontaminiert« zu sein. Scheunert sieht das völlig anders. Er lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter für weniger als einem DDR-Hunni in einer Ostberliner Wohnung. Ist es ein Verbrechen, in einem sozialistischen Land Karriere gemacht zu haben, denkt er.
Er hört die Versprechungen der neu konstituierten konservativen Parteien, deren Parolen sich auf drei Worte reduzieren lassen: Bei Einheit Wohlstand.
John hieß jetzt Stephen Carry und war in den Vereinigten Staaten ein berühmter Countrysänger geworden. Er musste so alt wie ich sein, knapp vierzig. Sogar bis nach Irland und Schottland hatten es seine Songs gebracht. Fast jeder englischsprachige Liebhaber amerikanischer Folksongs kannte ihn und sein bezauberndes Gitarrenspiel. Und dann war er in das Filmgeschäft eingestiegen; nicht in die großen Hollywoodproduktionen, aber er spielte in solchen amerikanischen Soaps wie Baywatch mit.
Jedermann jenseits des Atlantiks kannte sein Gesicht. Ich erkannte ihn nicht, obwohl ich ihn in seiner Jugendzeit kennen gelernt hatte. Damals, 1970, war ich dem Kalifornier im spanischen Süden, in Torremolinos, begegnet. Wir beide waren damals zwanzig Jahre jung. Er arbeitete hinter der Theke der angesagten Hippie-Bar »Alamo« als Barkeeper und war vor der Army desertiert, wie mir seine Freundin Svea erzählt hatte. An jenem Abend hatte ich ihn mir genauer angesehen.
Er war groß, schlank und athletisch gebaut; er trug »Gibran-Masche«, das heißt, er trug sein Haar im Jesusstil. Da passten die Jesuslatschen, wie ich beiläufig feststellte, haargenau. Ein wallender Bart umrahmte sein längliches Gesicht, aus dem kluge und entschlossene blaue Augen funkelten. Irgendwie passten seine abgewetzten Jeans und das Farmerhemd, worüber er eine jener beliebten Hippie-Westen trug, gut zusammen.
John war mir sofort sympathisch gewesen. Wir hatten von ihm erfahren, wie es an der amerikanischen Heimatfront aussah. Er war dem Einberufungsbefehl nicht gefolgt, war über Kanada geflüchtet und war von den US-Behörden über alle amerikanischen Konsulate und über alle Kontinente hinweg gesucht worden. Er war einer von Hunderttausenden auf einer langen Desertionsliste. Deshalb hatten ihm seine Freunde aus der Friedensbewegung einen falschen Pass besorgt. Er führte ein Leben im Untergrund. Keiner der rund um Torremolinos stationierten Ami-Soldaten, die sich gelegentlich im »Alamo« amüsierten, um über ihren trostlosen Alltag als ungeliebte Ausländer in Spanien hinwegzukommen, hatte seine wahre Identität gekannt.
Aber einer musste ihn ein Jahr später schließlich doch erkannt und verraten haben.
Was ihn Anfang der Siebziger Jahre zur Fahnenflucht bewegt hatte, hatte er uns sehr anschaulich geschildert. Fassungslos hatten er und seine Studienfreunde der Universität von Kent, Ohio, am 4. Mai 1970 auf die erschossene Kommilitonin geblickt. Aus ihrem Brustkorb in der Höhe des Herzens sickerte Blut. Da war nichts mehr zu machen; leblos lag das Mädchen, das eben noch mit ihnen zu einem Teach-in wegen Nixons Kambodscha-Überfalls gehen wollte, auf dem Pflaster. Die Nationalgarde hatte auf die Studenten ohne Vorwarnung geschossen. Das Kent-State-Massaker wurde für die amerikanische Jugend zum Fanal des Aufruhrs.
Auch Svea hatte ich im »Alamo« kennen gelernt. Die hübsche und kluge Dänin und er waren ein süßes Pärchen gewesen; sie hatten sich geliebt und waren füreinander da. Obgleich Svea mir beiläufig erklärt hatte, dass sie auch gut ohne ihn auskommen könne. Aber damals war sie erst siebzehn gewesen und hatte vielleicht noch andere Ideen im Kopf. Jedenfalls hatte sie die Verhaftung ihres Geliebten und sein Verschwinden von einem Tag auf den anderen so arg mitgenommen, dass sie in eine akute psychische Krise geraten war. Ein Jahr lang hatte sie einmal pro Woche die beschwerliche Busfahrt nach Malaga unternommen, um sich therapieren zu lassen.
Sie hatte John nicht besuchen können. Das amerikanische Konsulat hatte jegliche Auskunft über seinen Verbleib verweigert. Svea blieb in dieser brutalen Realität hilflos zurück. Sie wurde drogensüchtig, fuhr auf Heroin ab; es war eine Rutschbahn in den Tod.
Einige meiner Freunde von damals, auch Wolle und Quiny, und ich hatten uns einige Zeit später auf den Weg gemacht, um Svea auf den letzten Drücker zu retten. Sie war jedoch aus Torremolinos verschwunden. Ihre Spur hatte uns ins Hippieparadies Marokko, nach Tanger und nach Marrakesch geführt. Ich hatte damals John gesucht und ihn glücklicher Weise gefunden, bevor unsere strapaziöse Suchaktion in Sachen Svea gestartet war. John hatte die Spur zu ihr ebenso verloren wie meine Freunde und ich.
In jenen Tagen wollte ich mit ihm gemeinsam Svea aus ihrem tödlichen Sumpf befreien. Auf ihn hätte sie gewiss gehört. Für ihn hätte sie die Kraft aufgebracht, sich aus der Geiselhaft des Heroins zu lösen. Es war uns nicht gelungen. Wir hatten sie nur noch als Leiche den Behörden übergeben können. Es war eine todtraurige Sache. Die Dramatik jener Zeit wirkte lange nach. John kehrte zurück nach Torremolinos und auch seine Spur verwischte sich mit den Jahren. Ich hatte nie mehr etwas von ihm gehört.
John alias Stephen Carry wurde in diesen Märztagen, in denen sich das Schicksal Deutschlands wendete, von Stewardessen erst kurz vor dem Abflug von L.A. diskret an Bord geleitet. Er war nicht mehr so schlank wie einst, aber man sah seinem athletischen Körperbau an, dass er regelmäßig Sport trieb. Statt Gibran-Masche trug er nun sein Haar halblang und aus den Jesuslatschen waren feine braune Lederschuhe geworden. Der einst wallende Bart war total gestutzt und kurz getrimmt. Aus seinem länglichen Gesicht funkelten wie früher kluge und entschlossene blaue Augen. Aus den Hippieklamotten war ein modischer extravaganter Herren-Anzug geworden.
Ohne großes Aufsehen zu erregen, nahm er in einer Reihe der ersten Klasse Platz. Falls andere Passagiere ihn erkannten, so ließen sie es sich nicht anmerken. Unentschlossen, ob er es lesen sollte, schlug er erst das Exposé und dann die Drehbücher auf, die auf seinem Schoß lagen. Doch er war nicht bei der Sache. Das neue Filmangebot könnte zwar seinen Finanzstatus verdoppeln und er könnte sich eine noch größere und schickere Villa hoch über Malibu leisten. Aber wollte er das wirklich? Brauchte er nicht etwas ganz anderes? Zeit? Und endlich wieder eine neue Liebe?
Er legte die Skripte zur Seite.
Sobald er in Frankfurt gelandet wäre, würde er duschen, sich umziehen und es sich im Hotel in Ruhe auf einer Lounge Couch bequem machen. Erst dann würde er sich entscheiden. Carry war müde, und nach ein paar Minuten war er in seinem bequemen Erste-Klasse-Sitz eingeschlafen.
Als er aufwachte, stellte er fest, dass das Flugzeug noch nicht gestartet war. Die Stewardess bot ihm frischen Orangensaft an. Leider würde sich der Abflug noch etwas verzögern, erklärte sie. Man müsse noch Instrumente checken, aber sonst sei alles in Ordnung. Der Pilot versicherte über Lautsprecher, man könne bald starten.
Carry schaute auf seine Rolex – ein einfallsloses Geschenk seines Managers. Doch gerade in diesem Moment gab es eine weitere Durchsage. Dieser Flieger würde nirgendwohin fliegen. Der Flug war definitiv gestrichen. Alle wurden nervös. Nun galt es, die Passagiere auf den Flug am nächsten Tag umzubuchen. Das Übliche hin und her, jammern, bitten, fluchen. Carry blieb ruhig. Im Showgeschäft musste man sich unter Kontrolle haben.
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