Eine Erinnerung stieg in ihr hoch. Sie kramte den Schminkspiegel aus ihrer Handtasche und hielt ihn vor seine Nase.
Sie erschrak. Undeutlich aber trotzdem. Der Spiegel beschlug sich. Also atmete er noch.
Jetzt durfte sie keinen Fehler machen. Er würde wahrscheinlich sterben, wenn sie ihn liegen ließ.
Zur Not konnte sie ihn immer noch mit einem Kissen ersticken, am frühen Morgen, bevor sie den Notarzt rief.
Sie setzte sich an den Tisch, ließ ihn nicht aus den Augen. Was sollte sie tun, wenn er plötzlich aufstand? Dann wäre es zu spät. „Stirb endlich!“, flüsterte sie ihm zu. Nervös holte sie sich ein Glas Kognak. Die Situation ließ sich fast nicht mehr aushalten.
Sie beobachtete ihn weiter. Schrie laut auf, als der Körper plötzlich zuckte. Arme und Beine begannen sich flimmernd zu bewegen für einige Sekunden, bevor sich der ganze Körper deutlich entspannte. Ein Röcheln drang aus seinem Mund. Dann war es vorbei.
Knapp erreichte sie das Bad, erbrach sich mehrmals, bevor auch sie sich entspannte. Geschafft.
Sie würde sich etwas zurechtmachen, bevor sie den Notarzt rief. Jetzt plagten sie keine Zweifel mehr, dass er das Zeitliche gesegnet hatte. Irgendwie stieg ein angenehmes Gefühl in ihr auf, es jetzt verdient zu haben, dass sie alles erbte. Wer hatte bis zum letzten Moment an seiner Seite ausgehalten? Damit er nicht allein sterben musste.
Sie hätte sich ja auch einfach irgendwo in eine Bar setzen und am Morgen nach ihm sehen können.
Samstagmorgen im Elsass, Krüger fühlte sanft ihr Haar über sein Gesicht streicheln, dann zupfte sie an seinem Ohrläppchen, „aufstehen, Frühstück ist fertig.“
Er lag eigentlich schon länger wach, wollte nur noch ein paar Minuten anhängen, aber sie gab keine Ruhe.
Demonstrativ öffnete er nur ein Auge, „ich schlafe noch“, behauptete er.
„Du musst mir ein Brot schmieren“, verlangte sie, „deine sind viel besser als meine.“
„Dieser Trick ist oberfaul“, brummte Krüger. „Nicht einmal meine Großmutter würde darauf reinfallen.“
„Bei deiner Großmutter würde ich das auch nicht versuchen“, gab sie zurück. „Aber wirklich, ich liebe es, wenn du das machst.“
Ein letzter Versuch, sie zu sich herunterzuziehen, scheiterte. Stattdessen zog sie ihm die Decke weg.
Krüger gab auf und schlurfte ins Bad.
Wenn man ihr beim Essen zusah, dachte er etwas später, könnte es doch stimmen. Möglicherweise eines von diesen weiblichen Verhaltensmustern, die ein Mann niemals vollständig verstehen würde.
Oder doch bloß ein ganz raffiniertes Täuschungsmanöver. Egal, wie auch immer? Sie strahlte ihn mit leuchtenden Augen an.
„Hat die schöne, gnädige Frau noch einen Wunsch?“, fragte er. „Darf es noch etwas Kaffee sein oder sonst etwas?“
„Findest du mich wirklich schön oder ist das nur so eine Floskel?“, fragte sie zurück.
„Du bist wunderschön!“, bekräftigte er.
„Und meine Falten? Die schlaffe Haut, die Tränensäcke, das stört dich nicht?“
„Weshalb seid ihr Frauen immer so schrecklich penibel, wenn es um die Schönheit geht“, fragte Krüger schulterzuckend. „Ich sehe davon nichts. Du gefällst mir einfach, so wie du bist.“
„Na gut, wenn du meinst. Vermutlich brauchst du längst eine Brille. Aber ich kann damit leben“, spottete sie.
„Meine Augen funktionieren noch fast wie neu“, brummte Krüger. „Bloß der Rest lässt langsam nach.“
„Welcher Rest?“
Krüger schüttelte den Kopf. „Ich kann dir nicht die Einzelteile aufzählen. Das ist nur so ein Gefühl.“
„Ach so.“
„Du willst mich auf den Arm nehmen?“
„Dazu bist du zu schwer.“
„Wie bitte?“
Sie lachte laut auf. „Du lässt dich so einfach in Quatsch Diskussionen verwickeln. Ich mag das.“
„Ist das womöglich auch so eine Salzburger Spezialität?“, fragte Krüger. „Aber wenn ich dir damit eine Freude bereiten kann, bin ich gern dabei.“
***
Auch Gilbert Weber befand auf dem Weg ins Elsass. Er hatte eine preisgünstige Busreise gebucht. Die am Samstagmorgen nach Strasbourg und am Sonntagabend zurück nach Freiburg führen sollte. Allerdings ohne die ebenfalls angebotene Übernachtung.
Dafür wollte die Neue sorgen, die ihn zu einem „fesselnden“ Wochenende eingeladen hatte. Sie nannte sich Justine. Auf dem Foto, das sie beigelegt hatte, sah sie ganz ansprechend aus. Darauf trug sie einen streng geknoteten, blonden Zopf zu einem knappen Bikini. Im weiteren: 48 Jahre, 79 kg, geschieden. Wie sie geschrieben hatte, wohnte sie ganz allein auf einem sehr abgelegenen Bauernhof. Sie wollte ihn am Bahnhof Strasbourg abholen.
Jetzt saß er neben ihr, in einem schon etwas in die Jahre gekommenen Renault. Während sie fuhr, nutzte er die Gelegenheit, um sie genauer zu betrachten.
Die prall gefüllte Bluse, dazu die langen Beine, die von einem sehr kurzen Rock kaum bedeckt wurden, luden ihn schließlich dazu ein.
Für einmal kam ihm die Impotenz sogar entgegen. In der Weise, dass seine Erregung nicht zu einer peinlichen Situation führte.
In seinem Brief hatte er das Problem zumindest angedeutet. Sie hatte ungeachtet dessen, ein Treffen vorgeschlagen. Das ließ darauf hoffen, dass sie tatsächlich nach erotischen Rollenspielen suchte, in denen einfacher, plumper Sex, nicht das Wichtigste darstellte.
Dazu noch an einem abgelegenen Ort, wo man sich nicht zu verstecken brauchte. Das konnte ein wunderbares Wochenende werden.
***
Kommissar Guerin hatte die ganze Woche lang versucht, Michélle erneut einzuladen. Sie wollte jedoch nicht schon wieder ins Elsass fahren.
Nach mehreren Mails, hatte sie sich schließlich erweichen lassen, ihn in Freiburg zum Abendessen zu treffen.
Deshalb war sie sehr damit beschäftigt, ein passendes Kleid zu finden. Auch wenn sie sich so lange geziert hatte, sie freute sich auf das Treffen. Und wollte sich von ihrer besten Seite zeigen.
Sie schwankte immer noch irgendwie zwischen ja und nein. Wusste jedoch im tiefsten Innersten, dass sie längst verloren hatte.
***
Krüger schwitzte im Garten seines Wochenendhauses. Sie hatte ihn gebeten, zwei Beete umzugraben, damit sie Blumen pflanzen konnte. Er war körperliche Arbeit seit langem nicht mehr gewohnt. Und seine Kondition dürfte auch schon mal besser gewesen sein, wie er schnell feststellte. Allein deshalb konnte ein kleines Training nicht schaden. Lästig fand er einzig die Blasen, die sich bald an seinen Händen bildeten.
Elisabeth brachte ihm rechtzeitig ein Bier, so dass er unauffällig, eine willkommene Pause einlegen konnte.
„Du bist ja richtig schnell“, stellte sie bewundernd fest. „Ich hätte bestimmt den ganzen Tag dafür gebraucht.“
Krüger genoss die Situation. „Manchmal braucht es also doch einen Mann?“, neckte er sie.
Sie nickte. „Ja, ab und zu ist es ganz praktisch, einen zu haben.“
„Praktisch?“, wiederholte er.
Sie lächelte nur verträumt.
„Du würdest es nie zugeben“, stellte er fest.
„Ist das ein Verhör, Herr Kommissar?“, gab sie zurück.
„Nein, gnädige Frau. Aber ich denke darüber nach, welche Methoden ich anwenden könnte, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.“
Er nahm sie in den Arm, sie ließ es widerstandlos zu.
„Was willst du machen, wenn ich dich erst wieder loslasse, sobald du ein Geständnis abgelegt hast?“, fragte er lauernd.
„Dann wird das Gemüse anbrennen“, gab sie nüchtern zurück.
Krüger seufzte. „Du bist wirklich eine harte Nuss.“
„Das war kein Spaß. Ich muss zurück in die Küche.“
Er gab auf, griff nach der Schaufel und rammte sie mit neuer Kraft in die Erde. Mit ihr würde es bestimmt nicht so schnell langweilig werden. Schon nur deshalb ist sie jede Mühe wert, dachte er.
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