Kriminalrat Vogel saß neben Krüger. Gemeinsam verfolgten sie die Präsentation, die Grünwald vorbereitet hatte.
Die Fundsituation. Den vermuteten Ablauf. Berichte der Spurensicherung, das Gutachten von Doktor Holoch. Alles lag bereits vor und war eigentlich allen Anwesenden bekannt. Trotzdem konnte eine akkurat vorgetragene Zusammenfassung aller Fakten immer auch wieder zu neuen Ansichten des Geschehenen führen. Mögliche Ursachen oder Zusammenhänge, die sich erst nach intensivem Nachdenken einstellten. Mal abgesehen von den seltenen Geistesblitzen, die durchaus an einer Lagebesprechung auch vorkommen konnten.
Ganz bewusst hatte Grünwald das Interessanteste aus seiner Sicht, bis zum Schluss aufgehoben. „Aus den Zeugenaussagen, meine Damen und Herren“, begann er, „ergibt sich möglicherweise eine Spur.“ Das Gemurmel verstummte. „Eine Zeugin hat regelmäßig beobachtet, dass immer mittwochs, erst ein Mann und danach eine Frau das Gebäude verlässt. Deutlich nach Ladenschluss.“
Grünwald genoss die Pause, die er an dieser Stelle eingeplant hatte. Die Anwesenden hingen gespannt an seinen Lippen. „Das war auch diesen Mittwoch der Fall. Der Mann erschien zuerst, wie immer. Kurz darauf wurde ein Wagen weggefahren. Die Frau, eine Blondine, so viel konnte die Zeugin erkennen, folgte etwa eine Viertelstunde später.
Anhand des Berichtes der Gerichtsmedizin überschneiden sich da die Zeiten erheblich. Also müssten die beiden, die Tote zumindest bemerkt haben.“
Vogel sah Krüger erstaunt an. „Wussten Sie davon?“
Krüger schüttelte den Kopf. „Nein Herr Kriminalrat“, gab er zerknirscht zu.
Vogel wandte sich an Grünwald: „Fahren Sie fort, Kriminalmeister Grünwald. Wir sind ganz Ohr!“
Der Angesprochene errötete. „Danke Herr Kriminalrat. Also, eigentlich war das schon alles. Ich wollte nur noch vorschlagen, dass wir am nächsten Mittwoch ein Team zur Beobachtung abstellen sollten. Falls ein weiteres Treffen der beiden stattfindet, könnten wir zugreifen.“
Krüger biss sich schmerzhaft in die Lippe. Halt endlich die Klappe, dachte er verzweifelt.
Vogel nahm seine Brille zur Hand und rieb sich die Augen, um nicht vor allen, laut loslachen zu müssen.
Krüger erhob sich. „Kollege Grünwald, danke für ihre Ausführungen. Wir werden die neuen Erkenntnisse noch vertiefen, sobald ich die Protokolle zu Gesicht bekommen habe. Deshalb unterbrechen wie die Besprechung an dieser Stelle. Wann die Fortsetzung stattfindet, gebe ich nächste Woche bekannt.“
Grünwald strahlte, er hatte die Aufmerksamkeit bekommen, die er sich erhofft hatte. Seiner nächsten Beförderung dürfte er damit um Monate nähergerückt sein.
War ja klar, dass Krüger sich zuerst mit ihm allein unterhalten wollte. Weil er eine entscheidende Spur entdeckt hatte.
Auch der Kriminalrat war beeindruckt gewesen. Selbst wenn er seine Begeisterung nicht so direkt gezeigt hatte.
Krüger beorderte Grünwald mit den Akten, gleich nach der Besprechung, in sein Einzelbüro im ersten Stock.
„Wer hat diesen Zeugen vernommen, Otto?“, fragte er freundlich.
„Ich, natürlich, Chef“, lautete die schnelle Antwort.
„Und weshalb haben Sie mich nicht darüber informiert, vor der Besprechung?“
„Ich war sehr beschäftigt damit, die Präsentation zusammenzustellen, Chef“, verteidigte sich Grünwald.
Krüger seufzte vernehmlich. „Halten Sie diesen Zeugen für glaubwürdig?“
„Ich denke schon. Das ist so eine alte Dame, die gegenüber wohnt. Sie beobachtet immer ganz genau, was draußen vor sich geht. Sie hält das Bad für ein verstecktes Bordell“, führte Grünwald aus.
„Haben wir dafür irgendeinen Anhaltspunkt, Otto?“
„Bisher nicht.“
„Wie hat sie das Fahrzeug beschrieben? Hat sie das Kennzeichen gesehen?“, fragte Krüger weiter.
Grünwald blätterte umständlich in seinen Unterlagen.
„Kein Kennzeichen, da steht eine Hecke davor. Das Fahrzeug, Moment? Groß, dunkel.“
„Groß und dunkel“, wiederholte Krüger. „Nicht sehr aufschlussreich. Finden Sie nicht auch, Otto?“
Grünwald zuckte mit den Schultern. „Trotzdem ist sie sicher, dass dieses Fahrzeug jeden Mittwoch da steht“, fügte er an.
„Na gut“, gab Krüger zurück. „Und wie kommen Sie darauf, dass dieses Fahrzeug und die blonde Dame am nächsten Mittwoch wieder vor Ort sein könnten, wenn die mit dem Fall zu tun haben?“
Grünwald zierte sich ein wenig. „Das war nur so ein Gedanke, Chef. Inzwischen ist mir auch klar geworden, dass das natürlich ein Quatsch ist.“
Krüger konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ein Geistesblitz also. Trotzdem werden Sie die Nacht auf Donnerstag vor diesem Gebäude verbringen, Otto. Ohne Ablösung, die ganze Nacht. Am Morgen erwarte ich einen sauberen Bericht über alles, was Ihnen aufgefallen ist. Mindestens zwei Seiten sollten es schon werden.“
Grünwald starrte ihn ungläubig an. „Aber was sollte das bringen?“
„Möglicherweise haben Sie dazwischen auch Zeit, um darüber nachzudenken, was Sie an der nächsten Besprechung in Anwesenheit des Kriminalrates vorbringen möchten“, sagte Krüger in ernstem Ton. „Haben Sie das verstanden, Kriminalmeister Grünwald?“
Grünwald klappte förmlich zusammen. „Ja, Chef. Ich denke schon.“
***
Riemenschneider arbeitete diesen Freitag auch das am Donnerstag in der Firma Liegengebliebene auf. Deshalb saß er bis nach zehn Uhr im Büro. Dass ihn Holger heute nach seiner Gesundheit gefragt hatte, obwohl sie sich nicht leiden konnten, war ihm gar nicht besonders aufgefallen. Todmüde kam er zu Hause an.
Die Gestalt, die sich verzog, während er den Wagen in die Garage fuhr, bemerkte er nicht. Er wankte eher, als das er ging, zu seiner Haustür.
Die weiße Ecke eines Briefes, der aus dem Briefschlitz ragte, ließ sich jedoch kaum Übersehen.
Riemenschneider zog den Umschlag heraus, bevor er aufschloss. Erst wollte er den Brief irgendwo ablegen, doch dann fiel ihm auf, dass der Briefumschlag weder Adresse noch Absender trug.
Seufzend öffnete er das Kuvert mit seinem Kugelschreiber. Ein halb zusammengefaltetes Blatt, das sich seltsam steif anfühlte. Auf der Innenseite ließ sich aus aufgeklebten Buchstaben eine Botschaft entziffern. „Ich weiß, was du getan hast. Will kein Geld. Aber du verschwindest aus Deutschland.“
Riemenschneider musste sich setzen. Er bekam keine Luft mehr. Und wieder dieser stechende Schmerz in der Brust. So heftig wie noch nie. Er wusste sofort, das musste der Infarkt sein. Sein Körper schlug hart auf dem gefliesten Boden auf. Das Blatt segelte an ihm vorbei, in eine Ecke. Das Letzte, das ihm noch durch den Kopf ging: Seine Alte, die musste bald nach Hause kommen. Nur noch solange durchhalten, bis die Hilfe rufen konnte. Dann verlor er das Bewusstsein.
Eine Stunde später war es soweit. Ein Schlüssel wurde in das Schloss geschoben. Die Tür war jedoch gar nicht abgeschlossen, wie Frau Riemenschneider erstaunt feststellte. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie ihn liegen sah. Zitternd kniete sie neben ihm nieder und rüttelte an seiner Schulter.
Bloß sein Kopf rollte auf die andere Seite.
Sie konnte es gar nicht fassen. Er ist tot! Einfach so. Das, was sie sich seit langem erhofft und kaum für möglich gehalten hatte. Frei und reich.
Ihr Blick fiel auf das Blatt, das unter dem Tisch lag.
Sie hatte keinen Schimmer, womit ihn jemand bedrohte. Egal, den Brief würde sie natürlich verschwinden lassen.
Das konnte kein Zufall gewesen sein, dass sie ausgerechnet heute ein unglaublich elegantes, schwarzes Kleid gesehen hatte. Das sie gleich gekauft hätte, wenn sie ihn nicht erst um das Geld dafür anbetteln musste.
Solche Demütigungen gehörten ab jetzt der Vergangenheit an. Endlich. Leise Zweifel schlichen sich ein. War er wirklich richtig tot? Sie mochte ihn eigentlich nicht mehr anfassen. Jetzt wo er es nicht mehr als Gegenleistung verlangen konnte.
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