Der Junge begriff schnell, dass Reden seinem Führer unangenehm war, und so verstummten seine Fragen bald. Zudem war er meistens viel zu erschöpft, um an etwas anderes zu denken, als schlafen, trinken und essen. Wasser war zu seiner Erleichterung immer erreichbar. Der Berglöwe schien die kleinen Quellen, Tümpel und Pfützen zu wittern, die immer wieder zwischen Steinen versteckt lagen und führte seinen kleinen Schützling zielgerichtet daran vorbei.
Kenjos größtes Problem war der Hunger. Nur zögernd probierte er das rohe Fleisch, das der Löwe ihm anbot, graue Felslöffler. Mühsam würgte er die ungewohnte Nahrung hinunter und bekam auch prompt Bauchschmerzen. Aber der Löwe trieb ihn weiter und so erreichten sie an einem späten Nachmittag das Ziel ihrer Wanderung.
Moon stieß ein donnerndes Gebrüll aus, welches prompt beantwortet wurde.
Kenjo klammerte sich eingeschüchtert an der Flanke des Löwen fest. Sein kleiner Kopf reichte noch nicht einmal an den massigen Bauchansatz von Moon heran.
Miam trat aus ihrer Höhle und sog prüfend die Luft ein. Da war doch ein Mensch!? Als sie die kleine Gestalt neben Moon sah, fauchte sie verblüfft.
Ein Mensch? -
Ein kleiner Mensch , bestätigte Moon und übermittelte ihr die Bilder seiner Erlebnisse.
Miam kam neugierig näher. Sie war nur geringfügig kleiner als Moon und ihre Mähne war nicht so dicht, aber sie hatte schon oft bewiesen, dass sie ihrem Gefährten kräftemäßig in nichts nachstand. Und Moon war darauf stolz. Nicht jeder durfte sich glücklich schätzen eine starke Gefährtin zu haben.
Als sich ihr Kopf dem Knaben näherte, streckte er die Hand aus und berührte arglos ihre Schnauze. Miam riss unwillkürlich das Maul auf und ihre spitzen Zähne blitzten ihm gefährlich entgegen.
Kenjo rümpfte die Nase. Dieses Tier stank entsetzlich aus dem Maul, fand er. Moon deutete seine Mimik richtig und schnaufte belustigt. Da stand dieser kleine Mensch vor einem dolchstrotzenden Maul, das ihn mühelos hätte verschlucken können, und ihm fiel nur auf, dass es Geruch besaß.
Miam erholte sich schnell von ihrer Überraschung und nahm prüfend noch einmal Witterung.
Er riecht schon sehr nach Moon, kaum noch nach Menschen , stellte sie fest. Er ist noch ein Baby und er hat Hunger .
Kurz entschlossen schubste sie den Knaben zur Höhle hin. Gehorsam lief Kenjo hinein und fand sich sofort in einem Gewühl aus Fell, Muskeln und kleinen spitzen Zähnen wieder. Miams Wurflinge waren noch sehr jung, nur wenige Monate alt, und entsprechend neugierig. Kenjo war neu für sie und schien ein herrliches Spielzeug zu sein. Erst Miams Fauchen scheuchte die Kleinen von ihm fort.
Kenjo hockte zerzaust und übersät mit Kratzern und blauen Flecken auf dem Boden und war hin- und hergerissen zwischen Angst und Begeisterung. Dass diese temperamentvollen Fellbündel nur spielen wollten, hatte er sofort begriffen, und dagegen war nichts einzuwenden. Aber sie waren immerhin genauso groß wie er und um einiges massiger und kräftiger. Außerdem waren sie zu dritt und in ihrer Überzahl ziemlich erdrückend.
Doch es sollte nicht lange dauern, bis er sich an seine wilden Spielgefährten gewöhnt hatte. Miam hatte, ohne länger darüber nachzudenken, beschlossen, den kleinen Menschen zu adoptieren, und zu Moons Erleichterung machte sie ihm keine Vorwürfe. Der Kleine war zwar Mensch, aber nur ein kleines Kind und ohne ihre Hilfe verloren. Außerdem schien er vernünftig und war ohne Angst.
Also blieb Kenjo, und er fügte sich rasch in die kleine Höhlengemeinschaft ein.
Schnell lernte er die Mimik und die Laute seiner neuen Familie richtig zu deuten. Er war noch jung und intelligent genug dazu. Deshalb begriff er auch, dass da noch etwas anderes war. Etwas, was er nicht hören und nicht sehen konnte. Warum sahen sich die Löwen manchmal minuten- oder gar stundenlang an, ohne Laut? Redeten sie miteinander? Aber wie?
Kenjo hockte in diesen Momenten unglücklich unter ihnen und versuchte zu ergründen was ihm fehlte.
Es war Nuur, sein Lieblingsbruder, der ihm das Sprechen beibrachte, - wenn auch unfreiwillig.
Miam hatte gewöhnlich alle Pfoten zu tun, um ihre Wurflinge beisammenzuhalten. Moon war meistens auf der Jagd, so dass sie alleine über sie wachte. Die temperamentvollen kleinen Kraftbündel wuchsen rasch und wurden von Tag zu Tag neugieriger und unvorsichtiger. Daher war es verständlich, dass Miam gegen Abend häufig erschöpft und auch unachtsamer war.
Und so gelang es Nuur und Kenjo, sich heimlich davonzustehlen und im Felsengewirr Verstecken zu spielen. Dabei war Kenjo naturgemäß im Nachteil, aber er hatte es sich angewöhnt mit all seinen Sinnen zu arbeiten. Schließlich hatte er in den Berglöwen genügend Vorbilder, die ständig ihre Nase überall hinstreckten, die Ohren spitzten und die Augen überall zu haben schienen.
Prüfend sog er die Luft durch die Nasenflügel und lauschte angestrengt nach seinem Bruder. Sein kleiner Körper bebte geradezu vor Konzentration, so intensiv hielten Körper und Sinne nach dem jungen Berglöwen Ausschau. Und dann war es plötzlich, als würde die Welt aus den Angeln gekippt.
Erst hörte er einen gellenden Schrei - Nuur! - und dann brachen Farben-Gedanken-Gefühle in seinen Kopf, die alle dasselbe zeigten: Angst-Schmerz-Federn-Schnabel.
Kenjo fiel vor lauter Entsetzen und Schrecken auf die Knie, doch Nuurs Hilfeschreie waren zu intensiv, als dass Kenjo sich ihnen entziehen konnte. Noch immer von Nuur überflutet rannte er in die Richtung des Entsetzens.
Als er Nuur erreichte, sah er den jungen Löwen verzweifelt gegen einen riesigen Bergadler ankämpfen. Noch niemals hatte Kenjo einen solch gewaltigen Vogel gesehen und er war erst starr vor Staunen. Die Flügelspannweite des Adlers betrug mindestens drei Mannslängen, und der Schnabel schien dem Knaben so groß wie sein eigener Kopf. Aber dann sah er in die kalten Augen des Raubvogels und begriff, dass in ihnen der blanke Wille zum Töten stand. Mit einem verzweifelten Schrei ergriff er einen großen Stein und warf ihn nach dem Angreifer.
Der Bergadler war irritiert, als ein Mensch auf der Bildfläche erschien. Und als er auch noch von einem Stein getroffen wurde, ließ er von seinem Opfer ab und stürzte sich mit lautem Kreischen auf den Jungen. Doch bevor er diesen erreichte, ertönte ein ohrenbetäubendes Brüllen und ein grauer Schatten sprang über Kenjo hinweg und prallte voller Wucht gegen den Vogel. Ein Knäuel aus Fell und Federn wälzte sich für kurze Zeit am Boden. Dann gelang es dem Adler sich zu lösen und er schwang sich lädiert und mühsam in die Luft.
Miam schickte ihm noch ein zorniges Brüllen hinterher, und der Vogel zog ab. Ein Löwenjunges zu fangen lag im Bereich seiner Möglichkeiten, aber eine ausgewachsene Löwin - das war selbst ihm eine Nummer zu groß.
Erleichtert rannte Kenjo zu Nuur. Dieser lag arg zugerichtet am Boden und leckte seine zahlreichen Wunden. Verwundert lauschte Kenjo in sich hinein. Nuur war noch da - jetzt war er zwar noch voller Schmerzen, aber ruhiger und mindestens genauso erleichtert wie Kenjo. Und dann war da auch Miam - und Murr - und Mier, und sie hießen ihn freudig in ihren Gedanken willkommen.
Kenjo strahlte übers ganze Gesicht, - und Miam war erleichtert. Also war der Junge doch nicht stumm. Er hatte nur etwas länger gebraucht. Vielleicht war das bei Menschen so, sie waren ja in allem anderen auch sehr langsam und schwach.
Nach diesem Erlebnis wurden die Wurflinge vorsichtiger - zumindest eine Zeitlang - und Miam konnte ein paar ruhigere Tage genießen. Doch die Löwin gab sich keinen Illusionen hin. Es lag in der Natur der Berglöwen hinauszulaufen und Neues zu entdecken.
Nuurs Wunden waren zum Glück nicht tief und verheilten rasch, so dass er bald wieder an den wilden Spielen seiner Geschwister teilnehmen konnte. Und so dauerte es nicht lange, bis der Bergadler in Vergessenheit geriet.
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