„Schöne Alsine”, lächelte er. „Du bist wahrlich eine Freude fürs Auge in dieser trostlosen Gegend. Was kann ein Schaf- und Pferdehirte dir bieten, dass du freiwillig hier ausharrst? Ich bin mir sicher, du wärst eine Zierde am Hofe des Hauses Pherusa.”
Orant stand langsam auf. Sein Gesicht war immer noch blass, aber in seinen Augen stand berechtigter Zorn.
„Andel aus dem Haus Pherusa”, sagte er leise. „Ihr habt sicherlich ein berechtigtes Anliegen hier aufzutauchen und meine Gastfreundschaft zu nutzen. Aber ihr vergeltet eine solche Gastfreundschaft mit Beleidigungen. Hat das Haus Pherusa keine Höflichkeit und Achtung mehr? Lasst mein Weib in Ruhe seine Arbeit tun.”
Andel lachte nur.
„Willst du mir etwa befehlen - Bauer? Und mein Haus beleidigen? Damit beleidigst du deinen Fürsten, hast du das vergessen?”
„Nein”, sagte Orant fest. „Das habe ich nicht getan. Und ich habe Euch nicht beleidigt, sondern nur eine Frage gestellt. Ich bitte Euch lediglich, den Frieden dieses Hauses zu achten.”
„Ahaa”, meinte Andel gedehnt. „Jetzt bittet er ja doch. Nun - Orant - sieh her. Ich gebe deine Frau frei und dann werden wir weiter verhandeln.”
Alsine entfernte sich hastig, als er sie losließ und warf Orant einen ängstlichen Blick zu.
„Nimm Kenjo und geh”, befahl Orant mit einem ungewohnt ernsten Blick. Alsine lief es kalt den Rücken hinunter. In seinen Augen stand Trauer und Liebe, aber auch ein tiefer Zorn geschrieben. Sie ergriff die Hand des kleinen Kenjo und zog ihn schnell nach draußen. Kenjo warf einen letzten Blick auf Orant, der aufrecht vor den bewaffneten Soldaten stand. Er sollte seinen Vater niemals wieder sehen.
Alsine führte den Jungen in die Küche und schärfte ihm ein, hier auf sie zu warten. Dann huschte sie leise zurück und lauschte atemlos an der Tür. Die Stimmen drangen nur gedämpft durch das dicke Holz, aber sie waren laut genug, so dass sie jedes Wort verstehen konnte.
„Nun Orant”, erklang Andels arrogante Stimme. „Da dir die Steuern zu hoch sind, mache ich dir einen anderen Vorschlag. Ich erlasse dir die Hälfte der zusätzlichen Abgaben für dieses Jahr - und dafür begleitet mich die reizende Alsine an den Hof des Fürsten. Ich bin mir sicher, sie wird den Aufenthalt dort genießen. Das Balg kannst du natürlich behalten.”
Seine Männer fielen in sein Gelächter mit ein.
„Ihr treibt schlechte Scherze.” Orants Stimme war leise und voll unterdrücktem Zorn.
„Nein Orant - das war kein Scherz. Aber vielleicht sollte ich vorher testen, ob dein Weib auch zu was taugt.”
Alsine schloss entsetzt die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stand vor ihr Timor, der alte und treue Knecht und sah sie fragend an. Hastig legte sie die Finger auf die Lippen. Der Alte begriff und schwieg. Gemeinsam lauschten sie auf das Geschehen.
„Meine Frau ist kein Gegenstand mit dem gehandelt werden kann”, sagte Orant. „Und ich bezweifle, dass sie sich bei Euch wohl fühlen wird. Das wisst auch Ihr.”
„Orant, Orant”, tadelte Andel. „Erst verweigerst du die Steuern, dann beleidigst du mein Haus und jetzt auch noch mich persönlich. Glaubst du wirklich, dass ich das durchgehen lasse?”
„Ich war bisher ein treuer und redlicher Untertan.” Orant bemühte sich noch immer um eine ruhige und leise Stimme. Aber die blitzenden Augen von Andel verrieten ihm bereits, dass sein Schicksal besiegelt war. Doch Orant war ein Mann der Ehre und er würde sich keine Blöße geben. „Ich habe geglaubt, dass einem solchen Untertanen auch entsprechende Achtung entgegengebracht wird. Aber Ihr Andel, Ihr nutzt meine Gastfreundschaft aus, beleidigt mich und meine Frau und provoziert mich. Warum tut Ihr das? Wegen ein paar Schafe und Pferde? Ist das alles? Dann nehmt sie, bei allen Göttern. Nehmt sie und verschwindet. - Und setzt nie wieder einen Fuß auf diesen Hof.”
Andel lachte hellauf. „Du bist mutig, Orant. Mutig, aber dumm. Glaubst du wirklich, ich lasse mich von einem Bauern fortschicken? Nein, ich werde dir sagen, was ich tun werde. Ich nehme deine Pferde und deine Schafe. Und deine Frau wird mir ihre Freundlichkeiten zeigen. Das ist mein letztes Wort.”
„Aber nicht meines.” Orants Stimme war fest.
Alsine schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Der alte Timor war ebenfalls blass geworden.
„Mögen die Götter seiner Seele gnädig sein”, murmelte er. Dann fasste er die junge Frau am Arm und zog sie schnell zur Küche.
„Herrin, Ihr müsst fliehen”, drängte er leise. „Sonst werdet Ihr und Euer Sohn den nächsten Tag nicht mehr erleben.”
Aus der Stube drang ein qualvoller Schrei zu ihnen und lautes Gelächter. Alsine schluchzte auf.
„Orant”, weinte sie. Timor zog sie durch die Küche und griff sich dabei auch den kleinen Kenjo.
„Mama, was ist denn los, Mama”, quäkte der Junge.
„Still, mein Junge”, mahnte Timor. Die drei hasteten über den Hof zum Stall. In Windeseile sattelte Timor ein Pferd und hob die junge Frau in den Sattel. Dann reichte er ihr den Kleinen.
„Reitet junge Herrin, reitet nach Norden und versteckt euch.”
Er versetzte dem Pferd einen Schlag, so dass es aufwieherte und los gallopierte.
Wenige Sekunden später erschien Andel mit seinen Männern auf dem Hof. Als er die fliehende Alsine sah, stieß er einen zornigen Ruf aus und eilte zum Stall.
Timor war nicht so dumm, in sein Sichtfeld zu geraten. Er duckte sich ins Heu und hielt den Atem an. So bekam er mit, wie Andel seinen Männern zurief: „Die Frau will ich lebend, aber dieses Balg muss sterben. Herzog Nardus kann keinen Erbfolger gebrauchen. - Na los.”
Die Männer galoppierten in die Dunkelheit hinaus.
Timor schlich sich ins Haus zurück und blickte erschüttert auf die blutüberströmte Leiche seines Herrn. Dies war kein fairer Kampf gewesen. Es war schlichter und feiger Mord.
Inzwischen waren auch die anderen Hofbewohner hinzugekommen. Timor erklärte ihnen schnell die Situation.
„Wir müssen fort von hier. Sie werden zurückkehren, und wer weiß, was sie dann uns antun. Packt eure Sachen. Aber schnell und nur das Nötigste. Am besten trennen wir uns, so dass sie uns schlecht verfolgen können.”
Während die anderen hastig ihre Habseligkeiten zusammenrafften, kümmerte Timor sich um den Toten.
Im Stillen beschwor er die Götter, sie mögen soviel Ungerechtigkeit nicht ungesühnt lassen und Alsine eine glückliche Flucht gewähren.
Flucht
Alsine jagte durch die dunkle Nacht nach Norden und hielt das Kind fest an sich gedrückt. In ihr war eine große Leere. Sie hatte Orant wahrhaftig geliebt. Er war ein meist ernster und zielstrebiger Mann gewesen, aber voller Sanftmut und Liebe für seine Familie. Wie sollte sie nun ohne ihn weiterleben? Und was sollte aus Kenjo werden? Wohin sollten sie sich wenden, falls ihre Flucht glückte? Sie würden immer Gejagte sein. Gejagt von den Mördern ihres Mannes.
Schon bald erreichten sie die Ausläufer des Nordgebirges und Alsine lenkte das Pferd den Berg hinauf. Der Weg wurde immer unwegsamer und der Mond spendete nur wenig Licht. Es war nur eine Frage der Zeit bis das Pferd fehltreten und straucheln würde, und als es dies tat, landeten Alsine und der kleine Kenjo unsanft auf dem Boden. Als sie sich aufgerappelt hatten, stellte die Frau verzweifelt fest, dass das Tier lahmte. Es würde mit Sicherheit nicht mehr in der Lage sein, durch das Geröll zu laufen. Sie mussten es zurücklassen. Ohne weiter zu zögern hob Alsine ihren Sohn auf den Arm und eilte weiter. Sie musste ein Versteck finden.
Langsam zog der Morgen auf und es wurde heller. Alsine sah sich voller Unbehagen um. Noch nie war sie soweit in den Bergen gewesen. Um sie herum türmten sich Felsen und Geröll, grau in grau. Unpassierbare Spalten und steile Hänge zwangen sie immer wieder auszuweichen und verlangsamten ihre Flucht.
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