Michi klappte die Kinnlade herunter. Dummes Arschloch, schoss es ihr durch den Kopf, starrte Akiri fassungslos an und bedachte ihren Mitschüler mit einem vernichtenden Blick. Doch dann fasste sie sich schnell wieder, schnitt eine zickige Grimasse und erwiderte zu ihrer eigenen Verwunderung provokativ: „Gut, 10. 000! Da ich zwei Brüste habe, 5000 für jede.“
An seinem Gesichtsausdruck konnte Michi ablesen, dass Akiri Hatori in keinster Weise mit dieser Antwort gerechnet hatte.
Ja, Michi Endo war einfach anders.
Ihr Vater, Kioto Endo, ein hochgewachsener, drahtiger, gutaussehender Mann Mitte vierzig, der sein Leben lang als Buchhalter in einer kleinen Firma arbeitete, interessierte sich nach Feierabend und wenn im Fernseher nichts Richtiges lief, leidenschaftlich für die Tradition der uralten buddhistischen Zen-Lehre.
Als belesener Mann, der sein Tagesgeschäft mehr mit dem Kopf als mit den Händen absolvierte, stolperte Kioto eines Tages in der Mittagspause beim Studieren der regionalen Tageszeitung über einen Artikel, der sich mit der Koan-Sammlung Mumonkan, Die Torlose Schranke , des Zen-Meisters Mumon Ekai beschäftigte.
„Ein Buch wie dieses sollte man besser sogleich wegwerfen. Warte nicht darauf, bis ich es tue. Lass das Buch niemals in der Welt verbreiten, und wäre es auch nur in der kleinsten Auflage.“
Wenige Tage später konnte der Feierabend für Kioto nicht früh genug kommen.
Kaum erreichte der große Uhrzeiger seiner Armbanduhr - eine Citizen AG 7400 - die Zwölf, griff er zu seiner bereits im Voraus gepackten ledernen Aktentasche und stürmte eilig aus dem kleinen Büro.
Hastig überquerte er mit großen Schritten die stark befahrene Quartierstrasse, eilte entgegen der Fahrtrichtung des Busses den Bürgersteig entlang, um sich schlussendlich nach gut fünfzig Metern zu der an der Bushaltestelle diszipliniert wartenden Menschenschlange zu gesellen.
Seine Arbeitskollegen hatten ihn so noch nie erlebt, denn gewöhnlich verließ Kioto immer als letzter das Büro.
Deshalb rissen sie später in ihrer Stammkneipe im obersten Stock ihres Büro-Hochhauses, bei dem einen oder anderen Sake, auch noch so manchen schlüpfrigen Witz über sein außergewöhnliches Verhalten.
Nach insgesamt sechs Busstationen und einem kurzen Fußmarsch, hielt Kioto endlich das ersehnte Meisterwerk in seinen Händen.
Zufrieden kehrte er dem kleinen Buchladen den Rücken.
Das zarte Bimmeln des mechanischen Glöckchens, dass als Türsignal diente, hallte noch längere Zeit lieblich in seinen Ohren nach und erinnerte ihn an ferne Zeiten, als Samurais noch Tugenden wie Treue, Ehre und Opfermut mit dem Schwert verteidigten.
Als Michi am 1. Augustabend in einem Krankenhaus in Kyoto 1978 zur Welt kam, donnerte und blitzte es so heftig, als ob jeden Moment die Welt untergehen würde.
Massen von Wasser ergossen sich in kürzester Zeit auf den Stadtteil rund um den alten Kaiserpalast. Alle Einwohner bangten um ihr Hab und Gut. Zum Glück zog der Taifun schnell weiter, und so gab es außer überreichlich Wasser und kleineren Schäden nichts zu beklagen.
Verängstigt saß Kioto im Taxi und betete dafür, dass sie während der Fahrt ins Krankenhaus nicht in dem stetig ansteigenden Fluten stecken bleiben. Wer will schon gerne zur Geburt seines ersten Kindes zu spät kommen?
Der Taxifahrer musste in diesem Moment an der Zurechnungsfähigkeit seines Fahrgastes gezweifelt haben, denn umgeben von chaotischen Straßenzuständen, ohrenbetäubendem Donnern und zahlreichen Blitzen am Himmel, erzählte Kioto dem Chauffeur von einem alten japanischen Sprichwort: „Fische wissen nichts vom Wasser, während sie im Wasser sind!“
Für Kioto führten aber nicht die unendlichen Wassermassen zu Michis Namensgebung, sondern die Auseinandersetzung mit dem Buch Mumonkan - die torlose Schranke , dass er wie besessen studierte.
Michis Geburt verlief ohne Komplikationen.
Stolz hielt Kioto sein gerade frisch geborenes Kind in den Armen, und als das Klinikpersonal wissen wollte, wie seine Tochter denn heißen soll, zögerte er auch nicht den kleinsten Moment, sondern antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Michi! Denn das große Tao hat kein Tor. Weil es torlos ist, steht es jetzt vor dir, und plötzlich siehst du es hinter dir. Es ist unergründbar und grenzenlos!“
Das Päckchen
Shanghai, China, 1. August 2002
Michi Endo hätte niemals in einer japanischen Stadt als Prostituierte arbeiten können. Allein schon der Gedanke, eines Tages einen Nachbarn oder sogar den eigenen Vater im Türrahmen ihres Studios zu erblicken, ließ ihren ganzen Körper erschauern.
Mittlerweile verbrachte sie ihren dritten Geburtstag in Shanghai.
Neben den Stammfreiern und der regelmäßigen Laufkundschaft, waren da noch die sogenannten Specials. In der Regel gut zahlende Geschäftsleute, die sich nur für wenige Tage in Shanghai aufhielten und die Michi ausschließlich in deren Hotelzimmern aufsuchte.
Ihr Studio befand sich in der Nähe des Jin Mao Plaza, das wie ein monumentales Mahnmal aussah und im Finanzviertel Lujiazui neben dem Huangpu Fluss lag.
Vor gut drei Jahren fertiggestellt, gehörte das Jin Mao Plaza zu den höchsten Gebäuden der Welt. Im oberen Drittel dieses Giganten residierte das Luxushotel Grand Hyatt, dessen Hotelmanager Wang Cheng höchstpersönlich dafür verantwortlich gewesen war, dass dieser extravagante Ort für Michi mit der Zeit zu einer lukrativen Einnahmequelle wurde.
Michi war erst einige Wochen in China gewesen und wohnte noch außerhalb von Shanghai in Suzhou, einer der ältesten Städte Chinas, als sie von Wang Cheng zu ihrem ersten Hotelbesuch gerufen wurde.
Der einflussreiche Grand Hyatt Manager hielt sich dort gerade für einige Tage auf, um sich mit eigenen Augen von einem neuen Animationsangebot für seine Hotelgäste zu überzeugen.
Einem alten chinesischen Sprichwort zufolge gibt es im Himmel zwar das Paradies, jedoch auf Erden Suzhou.
Berühmt für seine prachtvolle Gartenanlage Liu Yuan , was so viel heißt wie Garten des Verweilens und dem Zhuozheng Yuan-Garten , was mit Garten der anspruchsvollen Amtsperson übersetzt wird, schienen diese beiden Orte geradezu ideal für touristische Exkursionen zu sein. Außerdem war Suzhou nur 90 Kilometer von Shanghai entfernt und somit relativ schnell mit entsprechenden Reisebussen zu erreichen.
Nachdem die Tagestouren für seine künftigen Hotelgäste unter Dach und Fach waren, saß der 160 Kilogramm schwere Wang Cheng nach einem üppigen Abendessen zufrieden in der Hotellobby eines First-Class-Hotels, zog genüsslich an einer kubanischen Havanna und nippte an seinem Rèmy Martin , als er in einem Anzeigenblatt für Insider über Michis Annonce stolperte, in der sie sich mit einem Pseudonym anpries.
Der Himmel hat das Paradies – Suzhou hat Ichiko!
1st-Class Ichiko, junge, knackige, vollb. Japanerin steht dem großzügigen Geschäftsmann zu Diensten.
Nur Hotelbesuche!
An ihren Geburtstagen mussten sich Michis Kunden zwangsläufig mit dem Telefonbeantworter begnügen.
Dieser Mobilfunkteilnehmer ist zurzeit nicht zu erreichen! Bitte rufen sie später nochmals an!
Zur Feier dieses Tages, der ihr gänzlich allein gehörte, wusch sie sich jeweils in aller Ruhe ihre langen Haare und pflegte gemütlich ihre Finger und Zehen, wozu auch das Bemalen sämtlicher Nägel gehörte.
Die Sonne schien direkt in ihre kleine Küche, in der sie auf dem warmen, weiß gekachelten Steinfußboden im Schneidersitz auf einer Bastmatte saß.
Plötzlich richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf ein leises Geräusch.
Neugierig sprang sie mit den farbigen zehenspreizenden Plastikschablonen an den Füßen zur Küchenspüle, öffnete die Schranktür unter dem Spülbecken, schob den Mülleimer zur Seite und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass die Kupferrohrverbindung leckte.
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