1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Spätestens seit Joseph Goebbels, dem Chef-Propagandisten der Nationalsozialisten und engsten Vertrauten von Adolf Hitler, wusste man, wie wichtig die Medien für den Erhalt der politischen Machtelite waren.
Nachdenklich legt Edmund sein Smartphone auf dem kleinen Bistrotisch ab, nippt an seinem Milchkaffee, lehnt sich zurück in den bequemen Ledersessel und blickt wie paralysiert durchs Fenster auf die Pattaya Sai Song Road .
Dort herrscht wie immer auf der zweispurigen Einbahnstraße ein dichter und geschäftiger Verkehr.
Links und rechts der Fahrbahn preisen Einheimische mit improvisierten Auslagen ihre Waren an. Fahrende Garküchen locken inmitten des chaotischen Verkehrsgewühls mit ihren Spezialitäten, deren exotische Düfte sich mit dem Gestank der Abgase vermischen. Tattoo-Shops und Wechselstuben zwischen kleinen Verkaufsständen, die T-Shirts, Sonnenbrillen, Sportbekleidung und Flipflops in bunten Farben anbieten. Last but not least, die zahlreichen um Kundschaft buhlenden Massagesalons.
Trotz der ansteigenden Hitze schlendern unzählige Touristen aus den unterschiedlichsten Kulturen die Pattaya Sai Song Road entlang.
Die Europäer sind vorzugsweise als Single oder in kleinen Gruppen unterwegs. Viele von ihnen fett- und barbäuchig, mit Tätowierungen an den unterschiedlichsten Körperregionen, die sie sichtlich stolz zur Schau stellen.
Die Chinesen treten fast nur in großen Gruppen auf und folgen in der Regel diszipliniert ihrem Reiseleiter, der, mit einem Fähnlein ausgerüstet, seine ihm anvertrauten Kunden in Manier einer Entenmutter sicher durch den stets stockenden Verkehr bugsiert. Wehe dem, so eine Horde kommt einem auf dem Gehsteig entgegen. Nicht einen Zentimeter weichen sie zur Seite. Die Macht des Kollektivs!
Oder die ganz in schwarz gehüllten Frauen, die ihren bärtigen Jeans-, Turnschuh- und T-Shirt tragenden Männern artig in einem vorgegebenen Abstand folgen und das quirlige Geschehen um sich herum ausschließlich durch einen schmalen Sehschlitz hindurch wahrnehmen. Dunkle gesichtslose Gespenster aus einer archaischen Welt, umgeben von leicht bekleideter thailändischer Anmut und Würde - Pattaya, Schmelztiegel oder Mosaik der Kulturen und Widersprüche!
Edmund brütet vor sich hin, nippt abwechselnd an seinen Kaffee, greift schlussendlich zum Mobiltelefon und tippt flink ein paar Suchbegriffe auf Google ein.
Ab 1967 diente das an der östlichen Golfküste Thailands gelegene, ehemalige kleine Fischerdorf Pattaya der US-Armee als Erholungsort für ihre G. I. ’s im Vietnamkrieg.
Eilig huschen Edmunds Augen über den Text, verlieren sich zwischendurch in den Bildern, die eindrücklich dokumentieren, wie das amerikanische Militär seinerzeit in Thailand von der Marinebasis Sattahip und der Airbase U-Tapo ihren todbringenden Nachschub organisierten.
Dabei basierte der Anlass des Vietnamkriegs auf einer Lüge, die der amtierende US Präsident, Lyndon B. Johnson, der Weltöffentlichkeit 1964 mit Hilfe der Massenmedien unterbreitet hatte.
Nordvietnamesische Schnellboote hätten Anfang August 1964 im Golf von Tonkin, vor der Küste Nordvietnams, US-Kriegsschiffe beschossen. Eine vorsätzliche Falschmeldung. Das kleine Einmaleins der Geheimdienste. Gängige Praxis, um sich so die Legitimation für den Eintritt in einen Krieg zu geben, der natürlich ökonomisch motiviert war. Es geht immer um Herrschaft und Einfluss und letztlich um Geld. Eine False Flag vom Feinsten, mit verheerenden Folgen. 58 220 junge US-Soldaten mussten ihr Leben im Dschungel, auf den Reisfeldern oder im aufreibenden Guerillakampf in einem der vietnamesischen Dörfer lassen. Auf vietnamesischer Seite soll die Zahl der Opfer Schätzungen zufolge bei 2-4 Millionen Toten liegen.
Edmunds Gedanken überschlagen sich. Sein Blick bekommt etwas Wehmütiges. Traurig schüttelt er mit dem Kopf, starrt düster vor sich hin, kann es nicht fassen, dass diese Episode der Menschheitsgeschichte erst vor 41 Jahren beendet wurde und hört sich plötzlich selbst beim Singen zu.
„The answer, my friend, is blowin' in the wind! The answer is blowin' in the wind.“
Nun also wird Bob Dylan überraschenderweise mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.
Zwar nahm der in die Jahre gekommene Rockpoet den prestigeträchtigen Preis an und bedankte sich auch brav beim Komitee in schriftlicher Form für diese mit rund 830000 Euro dotierte Auszeichnung, ließ sich für die eigentliche Übergabe der Trophäe aber von Patti Smith vertreten, einer Punkrock-Legende und alten Weggefährten.
Bob Dylan hätte diesen Preis nie akzeptieren dürfen, resümiert Edmund leicht brüskiert, sondern sich ein Beispiel an John Lennon nehmen sollen, der als einziger Beatle am 25. November 1969 wegen Großbritanniens Unterstützung der Amerikaner im Vietnamkrieg aus Protest seine königliche Ehren-Medaille zurückgegeben hatte.
„Tja … manchmal sind uns die Toten näher als die Lebendigen“, säuselt Edmund, kippt den letzten Schluck Latte Macchiato in sich hinein und blickt nach draußen auf die Straße.
Ein Notfallwagen versucht sich mit flackerndem Blaulicht seinen Weg durch den Verkehr zu bahnen. Doch selbst sein nerviger ohrenbetäubender Signalton bringt ihn keinen Deut schneller durch das dichte Knäuel der stark befahrenen Pattaya Sai Song Road - Buddhistische Gleichgültigkeit im stockenden prestigeträchtigen Individualverkehr.
Dafür beantwortet Google Edmunds Suchanfrage zu John Lennon umso schneller. Wissbegierig überfliegt er die verschiedenen Wikipedia-Einträge, die Lennons Lebensstationen von seiner Kindheit bis zu seinem tragischen Tod skizzierten.
Fasziniert bleibt er bei einem Foto hängen, das ein Lennon-Fan nur wenige Stunden vor John Lennons Ermordung in der Nähe des Dakota -Gebäudes am 8. Dezember 1980 mit seiner Kamera aufgenommen hatte. Das Farbfoto zeigt den begnadeten Singer-Songwriter neben seinem Mörder, Mark David Capman, als dieser sich gerade von dem berühmten Ex-Beatle eine Schallplatte signieren lässt.
Andächtig stöpselt Edmund seinen Kopfhörer in sein Samsung Smartphone S5 und gibt auf YouTube den Musiktitel Imagineein.
Ein zirka 50-jähriger Asiate betritt das Cafè, gibt seine Bestellung direkt an der Verkaufstheke auf und deutet mit einer ausladenden Handbewegung auf den Außensitzplatz, der über eine Raucherecke verfügt.
„Woher kenne ich bloß diesen Mann?“, rätselt Edmund. So nebenbei beobachtet er am linken Oberarm des neuen Gastes eine Tätowierung, die aber zur Hälfte von dessen hochgekrempelten Ärmeln am schneeweißen Hemd verdeckt wird und so gar nicht zum sonstigen Aussehen passt. Mit den Markenjeans und den schwarzen Lederschuhen wirkt dieser Unbekannte eher wie ein Schauspieler, den man in ein unpassendes Kostüm gezwängt hat.
Während der Fremde das Cafè verlässt, um sich draußen an einen der zahlreichen Bistrotische niederzulassen, wird Edmund plötzlich bewusst, dass dieser Mann ihn gar nicht an eine lebende Person erinnert, sondern an seine Romanfigur Izumi Kushiro.
Was könnte Izumis ambivalente Lebenshaltung besser skizzieren als ein Tattoo, freut sich Edmund und kann es gar nicht erwarten, dieses Detail direkt nach seinem Cafébesuch daheim in das entsprechende Kapitel seines Romanmanuskriptes Der Klang der Shakuhachi einzubauen.
Die Ohrfeige
1957 bis 1976, Tokio, Hamburg und Yokohama
Izumi Kushiro wuchs als einziges Kind einer sehr wohlhabenden Immobilienmakler-Familie in Tokio auf. Sein Vater Yoshio starb, als Izumi noch ein Kleinkind war und da seine Mutter Omina die Leitung des Geschäftes übernommen hatte, waren stets zahlreiche Hausangestellte um den lebhaften „Zumi“ herum.
Neben der Köchin und dem Chauffeur, der gleichzeitig auch noch als Gärtner arbeitete, war das Hausmädchen, Akutzi, Izumis wichtigste Bezugsperson.
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