MARIE GATÉ
DER KLANGDES BLEISTIFTES,DER ZU BODEN FÄLLT
Für Adrienne, die mir ihre Liebe schenkte
Für Ubaldo , Pierre und Manuel, die ich liebe
ISBN 978-3-948065-17-1
eISBN 978-3-948065-18-8
Alle Rechte der Ausgabe
© STROUX edition München 2020
Covergestaltung: Matthias Mielitz, München – unter Verwendung eines Gemäldes von Horst Thürheimer, Fotografie von Thomas Lomberg
www.stroux-edition.de
Printed in Germany
SEPIA SEPIA Tintenfische besitzen einen Farbbeutel, der eine monochrom bräunliche Flüssigkeit enthält und sich entleert, sobald das Tier Gefahr wittert. Unser Gedächtnis verfügt zur Linderung allzu scharfer Konturen über den gleichen Verteidigungsmechanismus: eine mit Zeit gefüllte Tintenpatrone. Alles vergeht mit der Zeit, man vergisst das Gesicht, die Stimme entwischt, sogar die schönsten Erinnerungen verlieren ihren Glanz. Aber plötzlich, über den Umweg eines Duftes, eines Wortes, eines Augenblickes taucht die Vergangenheit auf. Sie durchbricht die blasse Eisschicht der Gegenwart und projiziert auf die Filmleinwand des Bewusstseins die wiedergefundenen Bilder. Als ich unter meinen Füßen kleine Erhebungen im Gras spüre, hebe ich den Blick und entdecke im Gestrüpp des Gartens meiner Schwiegereltern einen jungen Haselnussstrauch. „Die Gemeine Hasel! Jetzt habe ich den Grund für meine allergische Rhinitis!“, ruft Ubaldo, als ich ihm meinen Fund melde. Am Sonntagstisch beim Sonntagsapfelkuchen unterhält er sich fachlich mit seinen Eltern, beide Mediziner wie er, über die Entfernung dieses Übeltäters. Ich hingegen pflücke eine noch unreife Haselnuss, befreie sie aus ihrem grünen Mäntelchen und knacke mit den Zähnen die weiche Holzschale auf, sehr vorsichtig, um das kostbare weiße Innere, das sich in meinem Mund wie eine Perle anfühlt, nicht zu zerstören. Ich spucke die unerwünschten Schalenstücke aus, lasse die glatte Kugel so lange auf meiner Zunge ruhen, bis der Drang, den säuerlichen Geschmack wiederzufinden, mich antreibt, sie zu zerkauen. In diesem Moment sitze ich wieder als kleines Mädchen auf der kalten Treppe des Hauses in La Neuville, in einem kurzen Vichy-Karo-Kleid, einen Hammer in der Hand, und beobachte hinter den Holzstäben meines Käfigs das menschliche Geschehen auf der offenen Straße. Ich habe die verrostete Büchse geöffnet, in der alle Filmestapel meiner Kindheit säuberlich aufgehoben waren. Oberflächlich betrachtet, hat sich die Farbe der Bilder verflüchtigt. Sie scheinen in den Sepia-Modus alter Fotos übergegangen zu sein. Aber nach dem Entweichen eines trügerischen Dunstes taucht – wie aus einer Wunderlampe – immer deutlicher und farbiger der Geist der Vergangenheit auf.
DIE PIAZZA GEHÖRT MIR
DIE STRASSE ZUM BELVEDERE
TATIE NENNE
DAS LEBEN IST EIN LANGER RUHIGER FLUSS
DER KLANG DES BLEISTIFTES
LES GRANDES VACANCES
DER DEUTSCHE FRIEDHOF
GANGRÄN
SCHAUSPIELERIN ODER ZUSCHAUERIN?
LOUIS JOUVET
EMANZIPATION
DAS KRIEGSMUSEUM
RÉSISTANCE
VOM HIMMEL GEFALLEN
UBALDO
DER HETEROCONGER HASSI
DIE FRANZÖSISCHE PATIENTIN
MÜNCHNER FREIHEIT
OHNE PAUKEN UND TROMPETEN
DAS SÜSSE LEBEN
TRISTESSE
LIEBE GRENZENLOS
MADEMOISELLE ADRIENNE
PHANTOMSCHMERZ
DIE REISE ZUM MOND
Tintenfische besitzen einen Farbbeutel, der eine monochrom bräunliche Flüssigkeit enthält und sich entleert, sobald das Tier Gefahr wittert. Unser Gedächtnis verfügt zur Linderung allzu scharfer Konturen über den gleichen Verteidigungsmechanismus: eine mit Zeit gefüllte Tintenpatrone. Alles vergeht mit der Zeit, man vergisst das Gesicht, die Stimme entwischt, sogar die schönsten Erinnerungen verlieren ihren Glanz. Aber plötzlich, über den Umweg eines Duftes, eines Wortes, eines Augenblickes taucht die Vergangenheit auf. Sie durchbricht die blasse Eisschicht der Gegenwart und projiziert auf die Filmleinwand des Bewusstseins die wiedergefundenen Bilder.
Als ich unter meinen Füßen kleine Erhebungen im Gras spüre, hebe ich den Blick und entdecke im Gestrüpp des Gartens meiner Schwiegereltern einen jungen Haselnussstrauch.
„Die Gemeine Hasel! Jetzt habe ich den Grund für meine allergische Rhinitis!“, ruft Ubaldo, als ich ihm meinen Fund melde. Am Sonntagstisch beim Sonntagsapfelkuchen unterhält er sich fachlich mit seinen Eltern, beide Mediziner wie er, über die Entfernung dieses Übeltäters. Ich hingegen pflücke eine noch unreife Haselnuss, befreie sie aus ihrem grünen Mäntelchen und knacke mit den Zähnen die weiche Holzschale auf, sehr vorsichtig, um das kostbare weiße Innere, das sich in meinem Mund wie eine Perle anfühlt, nicht zu zerstören. Ich spucke die unerwünschten Schalenstücke aus, lasse die glatte Kugel so lange auf meiner Zunge ruhen, bis der Drang, den säuerlichen Geschmack wiederzufinden, mich antreibt, sie zu zerkauen.
In diesem Moment sitze ich wieder als kleines Mädchen auf der kalten Treppe des Hauses in La Neuville, in einem kurzen Vichy-Karo-Kleid, einen Hammer in der Hand, und beobachte hinter den Holzstäben meines Käfigs das menschliche Geschehen auf der offenen Straße.
Ich habe die verrostete Büchse geöffnet, in der alle Filmestapel meiner Kindheit säuberlich aufgehoben waren. Oberflächlich betrachtet, hat sich die Farbe der Bilder verflüchtigt. Sie scheinen in den Sepia-Modus alter Fotos übergegangen zu sein. Aber nach dem Entweichen eines trügerischen Dunstes taucht – wie aus einer Wunderlampe – immer deutlicher und farbiger der Geist der Vergangenheit auf.
„Alles kommt mir so vertraut vor, als ob ich nie weg gewesen wäre.“
„Dein Leben ist nicht hier, hier sind nur die alten Trugbilder.“
Nuovo Cinema Paradiso (1988)| Regie: Giuseppe Tornatore
„Bonjour Madame!“, grüßt pünktlich um 17 Uhr „dieser unverschämte Junge, der doch sehr wohl weiß“, empört sich Tatie Nenne, „dass ich nicht verheiratet bin.“
Die alte Dame, meine Großtante Adrienne, legt besonders Wert auf ihren Titel ‚Mademoiselle‘, den sie stets wie einen Orden trägt. Ich finde den unverschämten Jungen einfach nur unverschämt schön. Jacky Dalbignac besitzt die Schönheit seines Namens und ähnelt dem rebellischen Titelbild einer Zeitschrift meiner Mutter: James Dean. Die ganze Dalbignac-Familie verkehre in den falschen Kreisen, warnt mich die pensionierte Lehrerin: „Seine Mutter ist früh gestorben, und die vielen Kinder sind wild aufgewachsen. Der Vater ist ein Trunkenbold und, wenn es so weitergeht, werden Jacky und seine Brüder genauso enden, denn sie wissen nicht, was sie tun. Man sagt, dass sie öfters bei der Polizei zu Besuch waren.“
Ich mag nicht, dass Tatie Nenne auf diese Art von meinem James Dean spricht. Sie ist sicherlich die Königin der Grammatik, aber mit Menschen kennt sie sich nicht gut aus, denn warum ist sie immer allein, warum hat sie keinen Mann? Sie bringt mir die Geheimnisse der Schrift bei, aber sie hat nicht gelernt, in den Augen der Menschen zu lesen, sonst hätte sie in dem Blick, der Jackys provokative Begrüßung begleitete, die freundliche Nuance bemerkt. Ich winke dem unverschämten Jungen heimlich zu, um die unhöflichen Gedanken meiner Aufseherin zu entschuldigen. James Dean fährt mit der Hand durch seine Haare und zwinkert zurück. Ich verfolge, wie er lässig davongeht.
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