Fado
Copyright © 2020 by Siegmund Eduard Zebrowski
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Epilog
Nachwort und Dank
Über den Autor
Kapitel 1
China, Provinz Liaoning, Mittwoch, 15. September 2021
Ein Blick auf die Uhr, kurz vor Mitternacht.
Reflexartig schaut Shixin in den Rückspiegel, nichts Auffälliges auszumachen, stockfinstere Nacht.
Erleichtert schaltet sie den Scheibenwischer ihres metallic roten BYD Song auf die unterste Stufe.
Vergessen der vorangegangene heftige Regenschauer, der sich jetzt als sanfter Nieselregen auf die Landschaft legt.
Gelegentlich ein paar herannahende Scheinwerfer auf der nassen lichtreflektierenden Gegenfahrbahn, was sie jedes Mal kurzzeitig erblinden lässt.
Shixin fixiert das Navi, die Route stimmt, dann betrachtet sie sich kurz im Rückspiegel.
Mal schauen, wie Papa auf diese Maskerade reagieren wird, denkt sie, denn die wasserstoffblonde Langhaarperücke mit dem frechen Pony lässt sie exakt wie ihre Zwillingsschwester Yini ausschauen.
Gut drei Jahre sind ins Land gezogen, seitdem Shixin ihren Vater Sheng das letzte Mal gesehen hat. Da lebte und arbeitete er noch, genauso wie sie, in Peking.
Nur wenige Menschen kennen jetzt seinen Aufenthaltsort.
Laut Navi sollte sie jetzt links abbiegen, dann noch gut 8 Kilometer in Richtung Norden fahren.
Shixin betätigt den Blinker, verlässt die Hauptstraße, folgt gebannt der vorgegebenen Route.
"Bitte schalte die Scheinwerfer aus, bevor du in die nicht enden wollende Zubringerstraße zu meinem Haus einbiegst", hatte Shixins Vater ihr am Telefon mit auf den Weg gegeben und angefügt: "Sobald Morpheus bellt, weiß ich, dass du im Anmarsch bist. Schließlich brauchen die Leute im Dorf nicht unbedingt wissen, dass ich zu so später Stunde noch Gäste empfange."
Die Worte ihres Vaters noch in den Ohren, wird Shixin plötzlich von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden stark überladenen Lastkraftwagens in die Gegenwart zurück geholt.
"Hey, mach' verdammt noch mal dein Fernlicht aus", flucht sie, klappt kurzerhand die Sonnenblende runter.
Mit schnaubendem Getöse schiebt sich ein schrottreifer 14-Tonner träge über den nassen Asphalt, eine stinkende rußschwarze Dieselwolke hinter sich her ziehend.
Als sich die Wege der beiden Fahrzeuge kreuzen, kann sie für einen Augenblick den Chauffeur erkennen.
Mit einer lässigen Geste deutet der Trucker mit dem Daumen über seine Schulter. Dabei streifen Shixins Augen seinen Oberarm, der von einer nackten Meerjungfrau mit wallender Mähne und üppigen Brüsten verziert wird.
Unter dem Tattoomotiv kann sie das in Versalienbuchstaben geschriebene Wort FADO ausmachen.
"Was bedeutet Fado … das gleiche Wort stand doch auch schon auf dem Kühler geschrieben?", fragt sich Shixin, als plötzlich die ohrenbetäubende Fanfare einer mit Druckluft betriebenen Hupe ertönt, deren Tuten eher an das Nebelhorn eines Schiffes erinnert.
Unwillkürlich zuckt sie zusammen, blickt reflexartig in den Rückspiegel.
Dort erhascht sie das abrupte Aufflackern der Lkw-Bremslichter, die für einen Moment lang die verregnete Nacht in einem grellen roten Licht erstrahlen lassen.
Eine gespenstische Szenerie.
Gar nicht auszudenken, wenn man als Frau in dieser verlassenen Gegend eine Autopanne hat, überlegt sie und sieht sich mit der wasserstoffblonden Perücke, dem kurz geschnittenen Schottenrock und den schwarz lackierten Gothic-Springerstiefeln verzweifelt auf Hilfe wartend an der Straße neben dem BYD stehen.
"Gott bewahre!"
Shixin vermisst ihr Mobiltelefon, die Brücke zur Aussenwelt. Nur zu gerne würde sie jetzt mit ihrer Zwillingsschwester Yini telefonieren, doch mit der Ortung und Positionsbestimmung hätte die Polizei, oder wer sonst noch alles hinter ihr her sein könnte, leichtes Spiel.
"Bis die Sicherheitskräfte dein Huawei bei mir geortet haben, bist du schon über alle Berge", hatte Yini gesagt, den Kleiderschrank geöffnet, Shixin ein paar extravagante Designer-Klamotten gereicht, die wasserstoffblonde Perücke aus einer Hutschachtel hervorgezaubert und ihr die Schlüssel zu ihrem BYD Song in die Hand gedrückt.
"Du kannst den Wagen so lange haben, wie du willst, ich brauche ihn zurzeit nicht!"
"Danke, Yini, das ist lieb von dir! Sag' mal, sind die Haare echt?"
"Klar, was denkst du denn! Made in Japan. Komm', setz' sie mal auf."
Shixin stülpt sich das Ding über den Kopf, wirft einen Blick in den großen Wandspiegel, verzieht das Gesicht.
Eruptives Gelächter.
"Herrje, jetzt sehen wir wirklich wie eineiige Zwillinge aus", ruft Shixin, "unser Vater wird denken, dass du vor ihm stehst, wenn er mich so sieht!"
Flugs entledigt sie sich ihres Blazers, streift das Etuikleid ab und schlüpft entschlossen in das ungewohnte Manga-Outfit, dass auf Anhieb wie angegossen sitzt.
Erneut schallendes Gelächter.
"Wow! Du siehst wirklich super aus, Shixin!", kommentiert Yini die spontane Modenschau mit kehliger Stimme, ergreift geistesgegenwärtig ihr Mobiltelefon und hält den Moment rasch mit einigen Selfies fest. "Papa wird sich riesig über deinen Besuch freuen, aber noch mehr wird ihm gefallen, wenn er zu hören bekommt, dass endlich eine seiner Töchter schwanger ist."
Schlagartig verändert sich die Atmosphäre im Raum.
Während Yini sich quietschfidel durch die erstellten Fotos scrollt, gefriert Shixins ausgelassenes Lachen zu einer starren blutleeren Maske.
Mit leblosem Blick widmet sie sich dem Schnüren der Springerstiefel.
Plötzlich hält sie inne, blickt zu Yini auf, streicht sich eine Strähne ihrer neuen Haarpracht aus den Augen und fragt mit ernster Stimme: "Chattet ihr immer noch so oft?"
"Was ist daran so schlimm?", gibt Yini zickig zurück.
Tatsächlich ist sie ein wenig eingeschnappt, doch nur kurz.
Immer seltener kommen Shixin jetzt andere Fahrzeuge entgegen. Dafür ist der Nieselregen stärker geworden, taucht die Landschaft in einen grauen, undurchsichtigen Schleier. Zum Glück verrät das GPS den Weg.
Der Magen knurrt, ein letzter Schluck Wasser aus der PET-Flasche, ein flüchtiger Blick auf die Uhr.
Gut fünf Stunden ist sie jetzt ohne Pause unterwegs.
"Lange kann es nicht mehr gehen", ruft Shixin sich gähnend zu, hofft, dass ihr Vater sie mit einer heißen Nudelsuppe empfängt.
Ihr ist schon ganz schlecht vor Hunger.
Kein Wunder, schließlich muss ihr Körper seit zwei Monaten für zwei Lebewesen Energie zur Verfügung stellen.
Mit Adleraugen erkundet sie die Umgebung, will ja nicht die Abfahrt verpassen, drückt ihren steifen Rücken in den Sitz und ist plötzlich hellwach.
Polizei!
Die ihr Scheinwerferlicht reflektierende Warnweste des Verkehrspolizisten ist nicht zu übersehen.
Mit erhobener Kelle blockiert der Beamte die Fahrbahn, fordert mit winkenden Bewegungen dazu auf, rechts ranzufahren.
Shixins Gedanken rasen, ihr Puls schnellt in die Höhe.
"Eine Verkehrskontrolle um diese Zeit?"
Kalkweiß im Gesicht verringert sie das Tempo, schaltet umständlich zwei Gänge runter, Schritttempo.
Im Nu beginnt die Vorstellung von ihr Besitz zu ergreifen, dass ihre Kollegen im virologischen Forschungsinstitut ihren Datenklau bemerkt haben und die Fahndung nach ihr bereits auf Hochtouren läuft.
Adrenalin flutet ihren Körper.
Einige Meter vor dem Polizeiauto, das sich hinter einem Stoß aufgetürmter Baumstämme versteckt hat, kommt der BYD zum Stehen.
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